Es war Montag, der 24. August 2015, als Melissa Fleming noch daran glaubte, dass "Europa mit der Situation umgehen kann". Die Sprecherin des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR meinte mit "der Situation" die Flüchtlinge und Migranten, die in den Wochen zuvor in großen Zahlen an der Grenze Europas angekommen waren. Fleming stellte zwar klar, dass die "richtigen Maßnahmen ergriffen" werden müssten, aber ihrer Meinung nach werden die Migrationsströme "Europa nicht auf den Kopf stellen". Sie sollte sich täuschen.

Als 2015 die Flüchtlingswelle Europa erreichte, zogen Nationalstaaten ihre Grenzen wieder hoch.
Foto: Christian Fischer

Dass es ein gemeinsames europäisches Vorgehen braucht, war spätestens klar, als die EU-Grenzschutzagentur verlautbarte, dass nur im Juli 2015 rund 50.000 Menschen in Griechenland an Land gegangen waren. Genauso viele Menschen waren es im gesamten Jahr 2014 gewesen. Der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras rief um Hilfe. Sein Land war überfordert, man könne die Menschen nicht mehr adäquat unterbringen, geschweige denn korrekt registrieren. "Wir tun alles, was wir können, um die Menschen menschlich zu behandeln", sagte Tsipras Anfang August. Aber die Union müsse helfen.

Gegenwind aus dem Osten

Das hatte die EU eigentlich bereits im Herbst 2014 unter Kommissionspräsident José Manuel Barroso zugesagt. Damals starben 300 Menschen auf einem Schiff vor Lampedusa – so etwas dürfe nie wieder passieren, sagte Barroso damals. Doch erst im April 2015 gab es unter Nachfolger Jean-Claude Juncker und nach weiteren tödlichen Schiffsunglücken einen Sondergipfel. Die von Juncker angeregte obligatorische Verteilung der Asylwerber auf alle EU-Staaten verlief aber schleppend. Ungarn unter dem Rechtspopulisten Viktor Orbán, aber auch Tschechien und Polen lehnten das offen ab. Andere unterliefen die Pläne durch Nichtstun.

Die meisten der ankommenden Migranten und Flüchtlinge wollten nicht in Griechenland bleiben. In großer Zahl zogen sie weiter in den Norden, an die Grenze zu Mazedonien – vor allem in die Grenzstadt Gevgelja, wo sich am Bahnhof chaotische Szenen abspielten, weil täglich hunderte Menschen einen der Züge nach Serbien besteigen wollten. Die mazedonischen Behörden ergaben sich bald dem Andrang und prüften die durchreisenden Migranten nicht mehr. Über Serbien drängten tausende nach Ungarn und somit weiter ins Zentrum der Europäischen Union.

Orbán stilisierte sich zum starken Mann und schickte Soldaten, Polizisten und Hunde an die Südgrenze, um den Flüchtlingen entgegenzutreten, später ließ er einen Zaun bauen. Ein Aufstand im Erstaufnahmezentrum Röszke wurde mit Tränengas niedergeschlagen. Eine Westbalkankonferenz in Wien sollte sich des Migrationsthemas annehmen und wurde überschattet von der Nachricht der 71 erstickten Flüchtlinge bei Parndorf.

Erinnerung an die DDR

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel hat die Tragödie entsetzt. Am 31. August sagte sie den wohl berühmtesten Satz ihrer Amtszeit: "Wir schaffen das." Gemeint war die Lösung der Flüchtlingskrise. Zuvor waren zehntausende Menschen nach Deutschland geflohen. Dafür gesorgt hatte auch ein Tweet des Bundesamtes für Migration (Bamf), dass das Dublin-Verfahren für Syrer ausgesetzt sei und sie in Deutschland bleiben dürften.

Am Morgen des 4. September machten sich tausende Flüchtlinge und Migranten von Budapest zu Fuß auf den Weg in Richtung österreichischer Grenze. Orbán setzte den Marschierenden wenig entgegen – und somit Österreich und vor allem Deutschland das Messer an. Erst einen Tag davor hatte er das Flüchtlingsproblem ein "deutsches und kein europäisches" genannt.

Merkel beobachtete das Geschehen in Ungarn genau. Später erzählt man sich, die Bilder hätten sie sehr berührt. Sie habe sich an die vielen Flüchtlinge im Jahr 1989 erinnert, die die DDR via Ungarn verlassen wollten. Und sie wollte keine Grenzschließungen. Am Abend rief Österreichs Kanzler Werner Faymann an. Sie sprach danach mit dem Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier und dem damaligen SPD-Chef Sigmar Gabriel. Beide waren einverstanden, dass die Grenzen nicht geschlossen werden. Alle fürchteten Gewalt. Nicht erreichen konnte Merkel CSU-Chef Horst Seehofer, weil er auf Urlaub war.

Dieser erfuhr erst am nächsten Tag, dass Tausende auf dem Weg nach Bayern waren. Kurz nach Mitternacht hatte die APA gemeldet: "Österreich und Deutschland erlauben aus Ungarn kommenden Flüchtlingen die Weiterreise in ihre Länder." Seehofer sprach später von einem Fehler. Es war der Beginn eines Zerwürfnisses, das ein Jahr dauern sollte.

Beschlossene Quoten

Die EU kam erst in den darauffolgenden Tagen in die Gänge. Mitte September 2015 wurde von den Innenministern unter luxemburgischem Vorsitz "verpflichtende Flüchtlingsquoten" beschlossen. 160.000 Flüchtlinge aus Syrien sollten aufgeteilt werden. Ungarn und Tschechien stimmten dagegen – das war der Auftakt für eine jahrelange Torpedopolitik in der gemeinsamen EU-Migrationspolitik.

Selbst großen Staaten wie Frankreich war es nicht unangenehm, wenn die Osteuropäer den "Migrationseifer" von Deutschen und Österreichern einbremsten. Merkel drückte, gegen den Willen von Staatspräsident François Hollande und zunächst auch der Kommission, den EU-Türkei-Pakt durch, ein Austausch von Milliardenhilfen gegen die Rücknahme von Flüchtlingen. Frankreich nahm nur einige zehntausend Asylwerber auf, Deutschland fast eine Million.

Doch die Willkommensstimmung in der Bundesrepublik drehte sich, als in der Silvesternacht 2015 auf der Domplatte in Köln hunderte Frauen sexuell belästigt wurden. Wenig später triumphierte die AfD bei einigen Landtagswahlen, in Sachsen-Anhalt erreichte sie 24,2 Prozent. Im Jahr 2017 zog die AfD als stärkste Oppositionspartei in den Bundestag ein.

In der EU wurden zwar seit 2015 viele einzelne, kleinere gemeinsame Maßnahmen gesetzt. Gut zwei Dutzend Gipfel fanden statt, die sich mit dem Asyl- und Migrationsthema beschäftigten. Aber die Umsetzung des "großen Asylpakets" der Juncker-Regierung harrt nach wie vor der Umsetzung.

Im August 2020 bereitet man in der Kommission den nächsten diesbezüglichen Vorstoß vor: "Im Herbst" will Präsidentin Ursula von der Leyen "ein ganz neues Asylpaket" vorlegen: humanitäre Lösungen, strikter Kampf gegen Schlepperei und Kriminelle. Diesmal soll es aber wirklich klappen. (Birgit Baumann, Bianca Blei, Thomas Mayer, 31.8.2020)