Nach seiner Erklärung am Freitagvormittag startet Kanzler Sebastian Kurz einen Interviewmarathon. Im Akkord empfängt er Medienvertreter im Bundeskanzleramt. DER STANDARD hat einen Slot am späteren Nachmittag gemeinsam mit den Oberösterreichischen Nachrichten. Das Kreisky-Zimmer, Kurz' Büro, musste wegen der vielen Besucher stark heruntergekühlt werden an diesem schwül-heißen Tag.

STANDARD: In der Krise wurden Grundrechte eingeschränkt. Auch bei der Covid-Gesetzesnovelle gibt es verfassungsrechtliche Bedenken. Wie hat sich Ihr Zugang zu Grundrechtseinschränkungen durch diese Krise verändert?

Wenn die Ansteckungszahlen steigen, werde die Regierung weitere Maßnahmen setzen, sagt der Kanzler.
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Kurz: Ich bin ein sehr freiheitsliebender Mensch und daher bei jeder Form der Einschränkung skeptisch. Aber natürlich ist es eine Aufgabe des Staates, die Bevölkerung zu schützen und alle notwendigen Maßnahmen zu setzen, um dieses Ziel zu erreichen. Jede Form der Einschränkung ist eine Abwägungsfrage. Mein Zugang ist, so wenig Einschränkung wie möglich, aber so viel wie notwendig. Daran hat sich nichts verändert.

STANDARD: Wie hoch war die Trefferquote bei den Corona-Maßnahmen? Hätte man manches anders machen müssen?

Kurz: In Summe ist es gelungen, durch die rasche Reaktion in Österreich Zustände wie in vielen anderen – auch europäischen – Ländern zu verhindern. Unser Lockdown war kürzer als anderswo, weil wir ihn früher gesetzt haben. Ich bin froh, dass wir so reagiert haben. Aber natürlich ist mit dem besseren Wissen darüber, wie Ansteckungen stattfinden, mit den verbesserten Testkapazitäten und mit dem besseren Schutz der Risikogruppen die Ausgangssituation jetzt für die Politik deutlich besser als zu Jahresbeginn. Überstanden ist die Situation trotzdem nicht. Wenn die Ansteckungszahlen etwa im Herbst oder Winter wieder steigen, werden wir weitere Maßnahmen setzen. Viele europäische Länder haben das schon getan, und zwar deutlich strenger als bei uns – bis hin zur Maskenpflicht im Freien.

STANDARD: Ist eine solche bei uns denkbar?

Kurz: Eine Maskenpflicht im Freien halte ich nach allen wissenschaftlichen Erkenntnissen, die mir vorliegen, für nicht sinnvoll. Daher wird es so etwas aus heutiger Perspektive nicht geben. Aber natürlich ist es die Aufgabe der Regierung, dafür zu sorgen, dass es nicht zu einem stark exponentiellen Wachstum bei den Ansteckungen und zu einer Überforderung der Gesundheitssysteme kommt. Wenn im Herbst die Schule wieder beginnt, das Leben sich nach innen verlagert und eine Grippewelle dazukommt, wird das eine fordernde Zeit. Das können wir uns jetzt schon mal alle bewusst machen.

STANDARD: Der Grundton Ihrer Erklärung war optimistisch. Warum?

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Kurz bei seiner Erklärung im Kanzleramt am Freitag.
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Kurz: Positiv empfinde ich, dass es Licht am Ende des Tunnels gibt. Die Fortschritte bei der medizinischen Forschung sind deutlich zügiger, als viele Experten erwartet hätten. Den Impfstoff sollte es deutlich früher als angenommen geben. Der nächste Sommer könnte also ein relativ normaler werden. Dafür lohnt es sich zu kämpfen.

STANDARD: Sie haben angekündigt, das Parlament in Hinkunft stärker einzubinden. War das bisher zu wenig der Fall?

Kurz: Je dramatischer eine Situation ist, umso notwendiger sind schnelle Entscheidungen. Je besser eine Situation unter Kontrolle ist, umso mehr Zeit hat man für die notwendige Einbindung aller Gruppen. Ich halte es für wichtig, dass der Gesundheitsminister jetzt eine gute gesetzliche Basis für seine Verordnungen schaffen möchte. Dass es Kritik der Opposition gab, ist vollkommen normal; dass er darauf eingeht, ist richtig. Es ist gut, dass wir wieder einen stärkeren Diskurs zwischen Regierung und Opposition haben.

STANDARD: Es gab in jüngster Zeit sehr viel Kritik am grünen Gesundheitsminister Anschober. Ist das der Grund, warum er am vergangenen Freitag nicht in Ihre Erklärung eingebunden war?

Kurz: Überhaupt nicht. Wir arbeiten in der Bundesregierung sehr gut zusammen. Alle Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie werden gemeinsam entschieden und in gewohnter Weise gemeinsam verkündet. Der Gesundheitsminister genießt mein Vertrauen. Aber als Regierungschef habe ich im Sommer viele Gespräche mit Menschen außerhalb der Politik geführt und den Wunsch bemerkt, dass es das Bedürfnis nach einer gewissen Perspektive gibt. Über diese Arbeitsschwerpunkte habe ich diese Woche in meiner Erklärung informiert.

STANDARD: Sind alle Bundesminister aus Ihrer Sicht gleich gut aufgestellt oder gibt es welche, wo Sie einen Mangel an Knowhow feststellen?

Kurz: Jedes Ressort hat unterschiedliche Stärken und Schwächen, auch jede Person hat Stärken und Schwächen. Die Bundesregierung leistet jedenfalls gute Arbeit. Das Gesundheitsministerium war in dieser Corona-Pandemie ganz besonders gefordert. Dort wird auf Hochtouren gearbeitet. Gerade in juristischen Fragen ist es oft so, dass es keine eindeutige juristische Einschätzung gibt.

STANDARD: Spitzfindigkeiten sind das, haben Sie einmal gesagt.

Kurz: Verschiedene Juristen bewerten oftmals vollkommen unterschiedlich. Deshalb ist es manchmal einfach nicht absehbar, wie ein Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs ausgeht. Selbst dort wird abgestimmt in solchen Fragen, also selbst Verfassungsrichter sind da oft nicht einer Meinung. In Zukunft wird das Gesundheitsministerium verstärkt auf die Expertise des Verfassungsdienstes zurückgreifen.

STANDARD: Warum ist der Verfassungsdienst dem Gesundheitsministerium in so heiklen grundrechtlichen Fragen nicht von Anfang an zur Seite gestellt worden?

Kurz: Die letzten Monate waren für alle eine sehr fordernde Ausnahmesituation, wo teilweise sehr schnell und unter hohem Druck reagiert werden musste, um Menschenleben zu retten. Ich bin jedenfalls sehr froh, dass nun verstärkt auf den Verfassungsdienst zurückgegriffen wird.

STANDARD: In Ihrer Erklärung war die Rede von strategischen Partnerschaften, die sie schließen werden. Darunter etwa mit zweifellos demokratischen Staaten wie der Schweiz, aber zum Beispiel auch mit den Vereinigten Arabischen Emiraten. Was ist der Mehrwert von einer solchen Zusammenarbeit?

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Kurz will außenpolitisch weiterhin Kontakt "zu Ost und zu West" pflegen.
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Kurz: Freilich würden wir uns wünschen, dass alle Länder dieser Welt liberale Rechtsstaaten und funktionierende Demokratien sind wie Österreich oder die Schweiz, aber die Situation ist eben eine andere. Außenpolitik bedeutet, auch mit Staaten zu interagieren, die anders aufgestellt sind als wir. Wenn wir nur mit liberalen Demokratien auf unserem Level zusammenarbeiten würden, dann wäre die Zahl an Staaten, mit denen wir kooperieren, sehr begrenzt.

STANDARD: Österreich tritt innerhalb der EU für einen rascheren Abbau der Sanktionen gegen Russland ein. Nach dem mutmaßlichen Giftanschlag auf den russischen Oppositionellen Alexei Nawalny und der österreichischen Ausweisung eines russischen Diplomaten wegen Spionageverdachts – lässt sich hier Österreichs Rolle als Brückenbauer noch aufrecht erhalten?

Kurz: Unsere geopolitische Position hat sich nicht verändert, unsere geografische Lage und unsere Historie haben sich nicht verändert. Wir hatten immer einen guten Kontakt zu Ost und zu West und werden das weiterhin so pflegen. Aber natürlich gibt es auch rote Linien, die aufgezeigt werden müssen.

STANDARD: Wird es den Besuch in den USA, den sie verschoben hatten, in nächster Zeit geben?

Kurz: Zum einen ist die Reisetätigkeit ohnehin erschwert. Zum anderen läuft gerade der Intensivwahlkampf in den USA. Ein Besuch ist daher derzeit nicht angedacht.

STANDARD: Ist Thomas Schmid trotz der Ermittlungen gegen ihn aus Ihrer Sicht als Chef der Staatsholding noch tragbar?

Kurz: Zum einen entscheidet über die Frage des Öbag-Chefs der Aufsichtsrat der Öbag und nicht der österreichische Bundeskanzler. Zum zweiten kann ich sagen, dass ich immer wieder die Erfahrung gemacht habe, dass Vorwürfe erhoben werden, medial breit darüber berichtet wird und sich diese Vorwürfe dann als falsch herausstellen. Ich habe das im Nationalratswahlkampf 2019 selbst erlebt, als es unzählige Anzeigen und strafrechtliche Vorwürfe gab und im Nachhinein hat sich alles in Luft ausgelöst. Bitter war, dass über die Vorwürfe selbst ausführlicher berichtet wurde, als darüber, dass sie falsch waren.

STANDARD: Also kein Handlungsbedarf im Fall Thomas Schmid?

Kurz: Ich habe Ihre Frage beantwortet. (Interview: Katharina Mittelstaedt, 29.8.2020)