Der Lockdown hat den Fitnesstrainer Arthur Kamarad zum Sozialmarkt-Kunden gemacht: "Für mich ist das hier das Paradies."

Foto: Christian Fischer

Der erste Blick lädt nicht eben zum Zugreifen ein. Ramponiert sehen einige Eierkartons aus, klebrige Flecken lassen so manche gesprungene Schale vermuten. Trotzdem bekommt Arthur Kamarad leuchtende Augen, als er die Ware inspiziert. "Zehn Cent pro Stück sind unschlagbar", sagt er: "Für mich ist das hier das Paradies."

Dorthin getrieben hat den 50-Jährigen – wuchtige Statur, angegraute Stehfrisur, Ray-Ban-Brille am Kragen – die blanke Not. Von heute auf morgen kappte der Lockdown das Einkommen des Fitnesstrainers auf null, fortan zehrte er vom Ersparten. Einmal 500 Euro habe er aus dem Härtefonds bekommen, die erste Rate der Notstandshilfe ließ zweieinhalb Monate auf sich warten. Ein Segen, dass Kamarad die Kette Foodpoint entdeckte, um sich billig zu versorgen – zuallererst mit Eiern, von denen er täglich bis zu zehn vertilgt. Die tatoogezierten Muskelpakete, die er unter straff gespanntem Leiberl spazieren trägt, wollen genährt werden.

Starker Zulauf seit Lockdown

Neukunden wie Kamarad machen Sozialmärkte, die Bedürftigen Lebensmittel zu Sonderpreisen bieten, zu einer der wenigen boomenden Branchen der Krise. Die Foodpoint-Geschäfte verzeichnen einen bis zu viermal so starken Zulauf wie vor der Pandemie. Der Mitbewerber Sozialshop eröffnet in Wien kurzerhand zwei neue Fillialen. Auch die Soma-Märkte, unter deren Label österreichweit 38 Geschäfte firmieren, registrieren wachsenden Andrang – wobei Verbandschef Gerhard Steiner damit rechnet, dass es sich erst um die Vorhut handelt: "Viele trauen sich aus Scham nicht gleich, in den Sozialmarkt zu gehen."

Jene Menschen, die sich am Montagmorgen vor der Foodpoint-Filiale in Wien-Hernals anstellen, haben die Hemmschwelle längst überwunden. Eine halbe Stunde vor Öffnung sind die Ersten da, um sich Zettel mit Nummern zu holen – weil der Platz knapp ist, wird der Eintritt reguliert. Drinnen, in den zwei schummrigen Räumen, steuern die meisten erst einmal die Obst- und Gemüsesteigen an. Flink tasten Hände Gurken ab, drehen Äpfel nach allen Seiten. Ein Mann schüttelt den Kopf, als er den in rauen Mengen vorhandenen Knoblauch einem Frischetest unterzieht. Zu rasch geben die einzelnen Zehen unter Fingerdruck nach.

Pingelig sein ist ein Luxus

Wer sucht, findet rasch was zum Naserümpfen. Der Ingwer ist dürr, einige Pfirsiche sind angestochen, abgepackte Melonenscheiben safteln. In der Kühltruhe liegen zergatschte Cremeschnitten und brüchige Fertigpizzen, so manche Kartonage ist zerissen. Doch pingelig zu sein, das können sich die Kunden hier nicht leisten.

"Wofür du im Supermarkt 150 Euro bezahlst, kriegst du hier um 50", erzählt ein junger Mann, der in Schlapfen, Leiberl und Jogginghose auf Einlass wartet. Pünktlich zum Start des Lockdowns ist der Flüchtling als Küchengehilfe rausgeflogen und von 1.250 Euro netto im Monat auf 950 runtergerasselt – da gehe es um jeden Euro. "Man kann mit 900 Euro schon leben", sagt er, "aber du wirst dir nie etwas ansparen können, um irgendwie weiterzukommen – etwa für den Führerschein oder einen Kebabstand."

Wartende Kunden vor der Foodpoint-Filiale in Hernals: Ohne Sozialmärkte würden mehr Lebensmittel direkt im Müll landen – aber stiehlt sich der Staat dadurch nicht aus der Verantwortung?
Foto: Christian Fischer

Pensionisten, Frauen mit Kindern, Kurzarbeiter und Arbeitslose geben sich an jenem Morgen die Klinke in die Hand, viele darunter haben Migrationshintergrund. Aber auch Studenten sind dabei, die zuallererst ein idealistisches Argument anführen. "Mir gefällt der Gedanke, dass Essen nicht verschwendet wird", sagt eine Soziologiestudentin, die nebenbei um 600 Euro im Monat kellnert. Da sei es verkraftbar, wenn die Bananen halt nur mehr zum Vermantschen in einem Kuchen taugen.

Ohne Sozialmärkte würden viele der feilgebotenen Lebensmittel direkt im Müll landen. Das Gros stammt von den Supermärkten, die überflüssige Ware gratis überlassen und sich so Entsorgungskosten sparen. Zum Teil sind das Ladenhüter – etwa aus der Zeit gefallene Osterhasen, wie sie das Foodpoint-Geschäft in Hernals sogar verschenkt.

Der größte Teil aber, erläutert Spar-Konzernsprecherin Nicole Berkmann, entfalle auf Produkte, deren Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) bald abläuft. Dieses sagt aus, wie lange der Hersteller die volle Genussfähigkeit garantiert – was aber nicht heißt, dass die Sachen danach verdorben sind. Greenpeace etwa fand heraus, dass Lebensmittel mitunter noch Wochen nach Ablauf des MHD tadellos waren. "Aber die Kunden kaufen sie dann einfach nicht mehr", sagt Berkmann.

Einkaufen mit allen Sinnen

Die Produkthersteller liefern ebenfalls, sei es, weil sie zu viel produziert haben – oder Waren in schadhafter Verpackung loswerden wollen. Am Höhepunkt des Lockdowns hatten auch Gastronomiebetriebe reichlich Nahrungsmittel geschickt, auf denen sie sitzengeblieben sind, erzählt Marius Aigner vom Verein Start-up, der die fünf Foodpoint-Märkte in Wien betreibt. Mit Mitbewerbern und anderen Sozialeinrichtungen wie der Obdachlosenherberge Gruft gebe es überdies regen Tauschhandel "wie vor hunderten Jahren. Der eine hat massenhaft Eistee, der andere Soda Zitron – dann wird getauscht."

Die Kühlkette werde penibel eingehalten, das Marktamt kontrolliere die Hygiene, sagt Aigner: Bedenkliche Ware sortiere man natürlich aus. Dennoch sichern sich die Betreiber ab. Wer hier einkaufen will, muss nicht nur sein niedriges Einkommen belegen (siehe Infokasten unten), sondern auch einen Haftungsausschluss unterschreiben. Inbegriffen sei der Hinweis, so Aigner, beim Einkauf "alle Sinne walten zu lassen".

"Vergammelt war noch nie etwas", berichtet Arthur Kamarad, der – weil er nun wieder als Trainer arbeiten kann – mittlerweile aus dem Kundenkreis herausgefallen ist. Und selbst wenn das Gemüse mitunter schon batzweich war – mein Gott: "Ich habe Tomatencremesuppe zu schätzen gelernt." Daran änderten auch die verächtlichen Kommentare nichts, die ihm vermeintliche Freunde auf Facebook geschickt hatten: "Was? Dort gehst einkaufen?"

Rückschritt ins Mittelalter

Billiges Essen für die Armen, weniger Verschwendung – ein Segen also für alle? Stefan Selke widerspricht entschieden. Es sei eine zivilisatorische Errungenschaft, dass der Sozialstaat die Daseinsfürsorge der Bedürftigen garantiere, sagt der Soziologie-Professor von der Uni Furtwangen in Deutschland. Wenn sich aber die immer professionelleren Sozialmärkte zu Einrichtungen auswachsen, mit denen die Bürger fix rechnen, sinke der Druck auf die Politik, für ausreichende Leistungen zu sorgen. "Der Staat wird aus der Verantwortung entlassen", sagt Selke: "Was ein Recht war, wird zum Almosen umgemünzt. Das ist ein Rückfall ins Mittelalter."

Allerdings steckt dahinter ein Henne-Ei-Problem. Gibt sich der Staat knausrig, weil es die Sozialmärkte gibt? Oder ist es umgekehrt? Wenn alle Spezialshops zusperren, wäre noch lange nicht garantiert, dass Regierungen im Gegenzug Sozialleistungen anheben. "Wir sind eine Ergänzung, kein Ersatz", sagt Foodpoint-Betreiber Aigner: "Wir können so rasch aushelfen, wie es die Behörden nicht schaffen." Auf Sozialämtern warte man Wochen oder Monate auf Leistungen.

"Es ist ein Dilemma", sagt Martin Schenk von der Armutskonferenz: "Sozialmärkte helfen Menschen unmittelbar, dass sie etwas ordentliches auf dem Tisch haben. Doch gleichzeitig schaffen sie Parallelstrukturen, die für Bedürftige beschämend sein können." Das Argument mit der schwindenden Verantwortung des Staates sei nicht einfach von der Hand zu weisen, "denn eigentlich sollten die Sozialleistungen so bemessen sein, dass Sozialmärkte überflüssig sind".

Teuerung trifft Ärmere stärker

Schenk fallen einige Beispiele ein, wo Österreich nachbessern könnte. Das Arbeitslosengeld beschert Betroffenen hierzulande einen vergleichsweise harten Absturz auf 55 Prozent des früheren Nettolohns. Auch die Mindestsicherung, sagt er, biete keine so üppige Absicherung, wie Kritiker behaupten: "Sonst müssten nicht so viele Menschen zum Sozialmarkt gehen."

Verschärfend wirkt: Die Teuerung trifft ärmer Menschen in aller Regel härter als den besser situierten Teil der Bevölkerung. Laut Statistik Austria lag die Inflationsrate für die untersten zehn Prozent der Einkommensverteilung in den letzten vier Jahren dreimal über dem Schnitt, nur einmal gleichauf. Vor allem die stark gestiegenen Mieten schlagen durch.

Sie habe gar keine andere Wahl, sagt vor dem Geschäft in Hernals eine Frau, die in Kurzarbeit ist: "Niemand weiß, wie es weitergeht." Da gelte es, vorsorglich jeden Euro beiseite zu legen – und den Speiseplan notgedrungen ans Angebot anzupassen. Was heute auf dem Teller lande? "Fisolen mit viel Knoblauch." (Gerald John, 2.9.2020)