Viele Menschen über 60 trauen sich noch immer nicht in die Ordinationen.

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Der Herbst wird hart, sagt Bundeskanzler Sebastian Kurz und prophezeit damit das, was viele Expertinnen und Experten schon vor ihm vorhersagten. Denn die Infektionszahlen werden zunehmen, wie es auch bei anderen Atemwegserkrankungen in den kalten Monaten der Fall ist. Während diese Nachricht bei vielen ein mulmiges Gefühl und mitunter Ängste auslöst, gestalten andere ihre Handlungen nach dieser Hiobsbotschaft.

Etwa Pflegeheimleiter, die ihre Bewohnerinnen und Bewohner sicherheitshalber einsperren – aus Angst, in der Öffentlichkeit als verantwortungslos und fahrlässig beschimpft zu werden, sollte es zu einer Ansteckung kommen. So wird alten, dementen oder sterbenden Menschen verboten, Besuch zu empfangen oder von Angehörigen umarmt oder überhaupt berührt zu werden. Auch wenn das oft das Einzige ist, was diesen Menschen am Ende ihres Lebens noch Freude macht.

Verunsicherung beim Arztbesuch

Oder chronisch kranke Menschen, die vor lauter Sorgen und Verunsicherung nicht mehr zum Arzt gehen. Allgemeinmediziner berichten: Vor allem während und nach dem Lockdown im Frühling, aber auch noch bis heute trauen sich viele Menschen über 60 noch immer nicht in die Ordinationen, obwohl etwa ihr Bluthochdruck oder ihr Diabetes schlecht eingestellt ist und eine medizinische Versorgung extrem wichtig wäre.

Oder Menschen mit Verdacht auf Krebs. Viele waren monatelang nicht beim Arzt, obwohl sie Blut im Stuhl oder einen Knoten in der Brust bemerkt haben. Die Gefahr, sich in der Ordination mit dem Virus zu infizieren und an Covid-19 zu erkranken, schien ihnen die größere. Oft können diese Menschen jetzt nur mehr palliativ und nicht mehr kurativ behandelt werden, sagen Onkologen.

Es gibt Dinge, die weit schwerwiegender für die Gesundheit sein können als dieses Virus. Das sind Einsamkeit am Lebensende, der Verlust an gesunden Lebensjahren durch eine unzureichend behandelte chronische oder akute Krankheit oder ein Tumor, der Monate zu spät diagnostiziert wird.

Unterschätzte Kollateralschäden

Noch immer werden in der Diskussion über Corona-Maßnahmen die Kollateralschäden nicht ausreichend berücksichtigt. Für Arbeitslosigkeit, Krebserkrankungen und Herzinfarkte gibt es keine tagesaktuellen Dashboards, bemerkte unlängst auch der Grazer Public-Health-Experte Martin Sprenger zu Recht und kritisierte, dass es derzeit so scheint, als gebe es in unserer Gesellschaft nur mehr ein Risiko für die Gesundheit, und zwar eine Infektion mit Sars-CoV-2. Um es zu minimieren, werde viel zu viel in Kauf genommen.

Auch wenn der Kanzler eine positive Entwicklung für den Verlauf der Pandemie im kommenden Jahr wahrsagt, können bis dahin noch viele massive gesundheitliche Schäden angerichtet werden. Im Herbst und Winter muss jedenfalls gelten: Alte und sterbende Menschen dürfen nicht alleingelassen und vom Rest der Welt abgeschottet werden. Und wer schwer krank ist, muss zum Arzt gehen. Das ist es, was die Menschen verinnerlichen müssen.

Um dafür zu sorgen, dass das gelingt, braucht es eine unmissverständliche Kommunikation der politisch Verantwortlichen und achtsame sowie verantwortungsvolle Medien, die keine Ängste schüren. Das ist nur eine Sache von vielen, die wir aus der ersten Phase dieser Pandemie dringend lernen müssen. (Bernadette Redl, 31.8.2020)