Die Fakten sind klar, und sie scheinen die Annahme vieler Beobachter über den Zusammenhang zwischen der Vergiftung Alexej Nawalnys, des gefährlichsten und aktivsten Kritikers des Putin-Regimes, und den unkontrollierbaren friedlichen Massendemonstrationen gegen den langjährigen Diktator Alexander Lukaschenko im benachbarten Belarus (Weißrussland) zu bestätigen. Präsident Wladimir Putin hat bereits am Donnerstag die Bereitschaft zu einem gewaltsamen Eingreifen nach einer diesbezüglichen Bitte des belarussischen Machthabers bekundet, falls die Lage "außer Kontrolle geraten würde". Dieses Land sei Russland so nahe wie vielleicht kein anderes Land, betonte Putin, mit Hinweis auf die engsten kulturellen, sprachlichen und wirtschaftlichen Beziehungen.

Der russische Präsident Wladimir Putin.
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Dass eine Massenbewegung der Zivilgesellschaft sozusagen aus dem Nichts ohne organisierte Führung das Herrschaftssystem Lukaschenkos erschüttern kann, wird zu Recht als ein Alarmzeichen auch für den autoritären Herrscher im großen Nachbarland betrachtet. Trotz der anhaltenden Protestdemonstrationen im sibirischen Chabarowsk wegen der Verhaftung eines dem Kreml missliebigen Gouverneurs gibt es keine Anzeichen für einen ähnlichen landesweiten Aufruhr in Russland. Nawalny, der populärste Oppositionspolitiker seit dem Tod des 2015 in Moskau erschossenen ehemaligen Vizepremiers Boris Nemzow, hat aber immer öfter Belarus als Vorbild genannt.

Regimekritiker

Die Popularität Putins, der nach der jüngsten Verfassungsänderung bis 2036 an der Macht bleiben könnte, bröckelt unaufhaltsam von 65 Prozent 2015 auf 29 Prozent in diesem Jahr. Die Auswirkungen der Wirtschaftskrise und der Pandemie werden am Vorabend der Lokalwahlen im Alltag der russischen Bürger immer spürbarer. Zugleich nimmt Russland laut Transparency International den 137. Platz unter den 180 wegen Korruption geprüften Staaten ein. Nawalnys blendend gestaltete Anti-Korruption-Videos, wie über den damaligen Ministerpräsidenten Dmitri Medwedew, haben Millionen auf Youtube gesehen.

Angesichts der langen Liste der Regimekritiker, die verwundet oder ermordet wurden, und der Straflosigkeit für die Auftraggeber, ist es fast unerheblich, wer direkt für den Giftanschlag gegen Nawalny verantwortlich ist. Alle Russlandexperten gehen davon aus, dass ohne Kenntnis oder ohne Billigung von allerhöchsten Stellen ein solcher Angriff gegen einen so prominenten Oppositionellen wie Nawalny undenkbar wäre. "Der Kreml sitzt auf der Anklagebank!" – so die Titelgeschichte der "Neuen Zürcher Zeitung". Diese Meinung vertreten praktisch alle unabhängigen Medien.

Wie kann der Westen den Oppositionellen helfen? "Der Spiegel" fordert eine "entschlossene und einheitliche Politik" gegenüber Moskau. Sanktionen und Mahnungen haben bisher keine Wirkung gezeigt. Eine einheitliche Außenpolitik der EU ohne Vetorecht bleibt ebenso eine Illusion wie die Wiederherstellung der transatlantischen Geschlossenheit. In allen entscheidenden internationalen Fragen ist der Westen auf Verhandlungen mit Putins Russland angewiesen, allerdings, wohlgemerkt, mit einem Staat, der nicht ein strategischer Partner, sondern ein gefährlicher Gegner geworden ist. (Paul Lendvai, 1.9.2020)