Im Gastkommentar macht sich die Journalistin und Buchautorin Ingrid Brodnig dafür stark, die Corona-Demos nicht zu verharmlosen.

Nachwehen einer Demo: In Berlin sind am Samstag Tausende auf die Straße gegangen, um gegen die Corona-Maßnahmen zu demonstrieren. Der Sturm auf das Bundestagsgebäude sorgte für Empörung.
Foto: AFP / Adam Berry

Es gibt Sätze, die bleiben einem in Erinnerung. Vergangenen Samstag war ich als Journalistin auf der Corona-Demo in Berlin – und eine Teilnehmerin sagte: "Bis Corona war ich echt untergebildet. Jetzt habe ich so viel gelesen, ich fühle mich überinformiert." Zum ersten Mal nahm diese Frau aus Baden-Württemberg an einer Corona-Demo teil, sie ist freundlich, gebildet, Gymnasiallehrerin. Und sie erklärte, dass nicht Viren Krankheiten verursachen, sondern menschliche Konflikte zu Krankheiten führen. Ebenso meint sie, dass noch kein Mensch je das Coronavirus gesehen hätte (was insofern falsch ist, als dass Elektronenmikroskope das Virus sehr wohl abbilden können).

Diese Frau sagte jedenfalls, sie sei jetzt "überinformiert". Sie ist wohl nicht die einzige Demoteilnehmerin mit diesem Gefühl: Manche Demonstranten trugen T-Shirts mit Botschaften wie: "I am not a sheep, are you?" Oder sie sangen Lieder, in denen Andersdenkende als "Schlafschaf" bezeichnet wurden. Das mag ulkig klingen, wenn ausgerechnet Menschen, die an Verschwörungserzählungen glauben, anderen erklären, sie sollen "aufwachen", selber "denken" oder nicht "verblöden". Aber wirklich witzig ist dieses Thema nicht: Im Gespräch mit Corona-Demonstrierenden merkt man, dass für einige von ihnen die Corona-Krise ein Erweckungsmoment war. Das passt auch zu einer Studie, die die Psychologen Roland Imhoff und Pia Lamberty 2017 vorlegten: Menschen, die ein hohes Bedürfnis nach Einzigartigkeit haben, scheinen eher zu Verschwörungsmentalität zu neigen. Und auf der Corona-Demo trieb man sich gegenseitig in diesem Gemeinschaftsgefühl an – dass hier Bürger zusammenkommen, die im Gegensatz zum Rest der Bevölkerung etwas durchschaut hätten.

"Kein Wahrheitsanspruch"

Wohlgemerkt neigt gewiss nicht jeder Besucher der Demo zu Verschwörungserzählungen. Etwa meinte eine Studentin aus Augsburg, sie hat "keinen Wahrheitsanspruch", keine These, um alles zu erklären, ihr gehen lediglich die Maßnahmen zu weit. Nur wer auf solche Demos geht, kommt dann unweigerlich mit dubiosen Behauptungen in Kontakt. Ein Mann rief zum Beispiel inbrünstig ins Mikro: "Ihr wisst alle, was für ein falsches Spiel gespielt wird!" Leider formulierte er nicht näher aus, welches "falsche Spiel" er meinte (aber gerade wenn solche Aussagen vage bleiben, kann jeder die für ihn passenden Feindbilder gedanklich einsetzen).

Das Faszinierende an dieser Demo war, dass man zwar den Rest der Bevölkerung aufforderte, endlich kritisch zu denken. Gleichzeitig ignorierten viele aber die inneren Widersprüche ihrer eigenen Versammlung. Zum Beispiel hieß es wiederholt, dass man für "Frieden und Freiheit" gekommen sei – und gleich daneben wurden Plakate geschwenkt, die die Inhaftierung von Kanzlerin Angela Merkel oder dem Virologen Christian Drosten forderten. Vom versuchten "Sturm" auf das deutsche Parlament, den Reichstag, ganz zu schweigen.

Im Bioladen

Nur wie passt das zusammen – warum gehen Menschen, die wie Durchschnittsbürger oder gar Hippies aussehen, mit Rechtsextremen auf die Straße? Darauf gibt es zwei Antworten: Erstens ist es ein Trugschluss, dass Menschen, die alternativ wirken, im Bioladen einkaufen oder ein Fan von Esoterik sind, automatisch Linke wären. Esoterik wird auch von Rechtsextremen genutzt, um Menschen anzusprechen. Sie reden dann einerseits von "Heilung", "Erleuchtung" und "Frieden", aber andererseits auch von der "Hochfinanz", "Bilderbergern" und "Rothschilds", die dem Frieden im Weg stünden. Es ist ein Unsinn, dass man bei Menschen anhand des Aussehens erkennen könne, ob sie beispielsweise an die jüdische Weltverschwörung glauben.

Der zweite Aspekt betrifft die inhaltlichen Widersprüche der Demo-Geher: Diese gibt es – das beginnt schon beim Virus selbst. Die einen meinen, das Virus existiert, aber es sei harmlos; die anderen glauben nicht einmal an die Existenz von Viren. Obwohl das unterschiedliche Sichtweisen sind, werden solche Widersprüche nicht diskutiert, weil man einen gemeinsamen Außenfeind hat: Medien und Politik.

Rechte Trittbrettfahrer

So war auf der Demo ein Plakat von Dunja Hayali zu sehen, sie ist Moderatorin von ZDF und als solche wohl kaum für die deutsche Corona-Politik verantwortlich. Aber auch ihr wurde Sträflingskleidung auf den Körper retuschiert – und dazu das Urteil: "Schuldig". Ein anderes Sujet erfand einen neuen Slogan der Nachrichtensendung Tagesschau: "Waschen Sie die Hände – Ihr Hirn waschen wir!!" Dass solche Plakate von der Masse toleriert wurden, dass diese Belustigung auslösten, sagt viel über das Misstrauen gegenüber etablierten Medien in der Corona-Skeptikerszene aus – und wie schwierig es sein wird, viele von ihnen argumentativ noch zu erreichen. Was kann man da tun? Natürlich ist es sinnvoll, weiter den Dialog zu suchen. Aber man muss sich überlegen, in welchen Situationen ein Gespräch auf Augenhöhe realistisch ist. Viele Menschen kennen mittlerweile Personen, die große Skepsis gegenüber den offiziellen medizinischen Empfehlungen zeigen oder fragwürdige Quellen teilen. Wenn dies im eigenen Familien- oder Bekanntenkreis passiert, hat man womöglich eine Vertrauensbasis, an die man anknüpfen kann, und vielleicht eine Spur mehr Gehör bekommt als die Presse.

Noch wichtiger ist für die Gesamtdebatte, die Corona-Demos inklusive dem verschwörungsaffinen Grundrauschen und den rechtsextremen Trittbrettfahrern nicht zu verharmlosen: Entscheidend wird sein, anderen Bürgern verständlich zu machen, dass – auch wenn nicht alle Protestierenden Rechtsextreme oder Wissenschaftsgegner sind – bei diesen Aufmärschen ganz offensichtlich ein starkes antidemokratisches, medien- und wissenschaftlichfeindliches Moment mitschwingt. (Ingrid Brodnig 2.9.2020)