Steuern zahlen, aber kein Kreuzerl machen dürfen – so geht es vielen Wienerinnen und Wienern ohne österreichische Staatsbürgerschaft.

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Steuern zahlen, ohne wählen zu dürfen? Vor 250 Jahren löste diese Zumutung den Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg zwischen 13 britischen Kolonien in Nordamerika und dem Königreich Großbritannien aus und führte letztlich zur Entstehung der Vereinigten Staaten von Amerika. "No taxation without representation", lautete die Parole damals – "Keine Besteuerung ohne (gewählte politische) Vertretung." Eine gerechtfertigte Forderung, aber bei deren Umsetzung spießt es sich selbst nach zweieinhalb Jahrhunderten noch immer. Auch in Österreich.

So verfügt beispielsweise von den in Wien gemeldeten und großteils Steuern zahlenden Menschen rund ein Drittel über keinerlei politische Mitspracherechte. Der Grund: Sie sind keine österreichischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger. Auch wenn sie seit vielen Jahren in Wien ihren Lebensmittelpunkt haben, den dortigen Gesetzen unterworfen und von den politischen Entscheidungen direkt betroffen sind, dürfen sie sich am 11. Oktober an der Wahl des Wiener Landtags und Gemeinderats nicht beteiligen. Das gilt selbst für nichtösterreichische EU-Bürgerinnen und -Bürger, da der Gemeinderat, den diese Menschen sonst wählen dürfen, in Wien zugleich der Landtag ist.

Politisch Ausgeschlossene

Dass die wachsende Gruppe der politisch Ausgeschlossenen gemeinsam mit den wahlberechtigten Nichtwählern zu einem massiven Problem für die Demokratie zu werden drohen, liegt auf der Hand. Daran dürfte sich in den nächsten Jahren auch nicht viel ändern, immerhin zählt Österreich in Hinblick auf Einbürgerungen zu den restriktiveren Ländern.

Um den nichtwahlberechtigten Wienern zumindest zu einer gewissen politischen Aufmerksamkeit zu verhelfen, haben zwei Politikwissenschafterinnen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften ein Forschungsprojekt durchgeführt, das von der Stadt Wien und dem Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds (WWTF) im Programm "Digitaler Humanismus" gefördert wird.

"Wir wollten die Anliegen und Meinungen dieser Gruppe erheben, indem wir nach Herkunft, Alter, Geschlecht, Einkommensschicht und Rechtsstatus ein repräsentatives Sample von 20 Personen zusammenstellten", berichtet Monika Mokre. "Mit diesem kleinen Abbild der Wiener Bevölkerung sollten verschiedene für die Wien-Wahl interessante politische Themenblöcke diskutiert werden." Die zwei geplanten mehrstündigen Gesprächsrunden konnten aufgrund der Covid-19-Pandemie zwar nicht stattfinden, über einen schriftlichen Fragebogen, Telefoninterviews und zumindest ein Treffen in der Gruppe bekamen Mokre und ihre Kollegin Tamara Ehs letztlich aber doch einige Ergebnisse.

Umwelt, Sport, Kreativität, Kinder

Welche Themen also bewegen die Wiener Nichtwahlberechtigten? "Ganz vorn standen umweltpolitische Fragen etwa zu Klimawandel, Häuser- und Straßenbegrünung, Mülltrennung etc. sowie die Themen rund um Kindererziehung", fasst Tamara Ehs zusammen. "Diese Themenbereiche brennen den Leuten unter den Nägeln, da spielt die soziale Schicht gar keine große Rolle."

So wünsche man sich mehr Sport und Kreativitätsförderung im Unterricht, Lernangebote zu Umwelt- und Demokratiefragen schon für die Kleinen und natürlich längere und flexiblere Kindergartenöffnungszeiten. Fazit: "Es geht dieser Gruppe um Themen, die alle betreffen – ganz unabhängig von der Staatsbürgerschaft", sagt Monika Mokre. Was mit diesen Erkenntnissen nun geschehen soll? "Damit die Anliegen der Nichtwahlberechtigten für die Politik sichtbar werden, haben wir die Antworten der Projektteilnehmer an alle Parteien verschickt, die bei der Wien-Wahl im Oktober antreten", berichtet die Wissenschafterin. "Wider Erwarten haben wir von allen eine Antwort erhalten." Die Politiker jeder Couleur scheinen das Problem der 30 Prozent Nichtwahlberechtigten und die damit verbundene demokratiepolitische Gefahr also ernst zu nehmen. Auch in das Online-Tool "Wahlkabine" zur politischen Orientierungshilfe werden die Projektergebnisse eingespeist.

Gefährlicher Trend

Natürlich kann man bei einem Mini-Sample von 20 Personen nicht von einer repräsentativen Umfrage sprechen – doch Tendenzen lassen sich daraus recht gut ablesen. "Zumindest die Befragung per Fragebogen könnte man mit einer deutlich größeren Anzahl von Adressaten durchaus mehrfach wiederholen", sagt Mokre. "Diskussionen, in denen auch Lernprozesse stattfinden, sind allerdings nur in kleineren Gruppen möglich." So es die Covid-Situation erlaubt, sollen im Herbst noch mehrere stattfinden.

Zählt man zu den Wienern und Wienerinnen, die nicht wählen dürfen, die freiwilligen Nichtwähler dazu, kommt man bei der letzten Nationalratswahl 2019 auf nahezu die Hälfte der Stadtbevölkerung. Ein bedenklicher Trend, der sich seit längerem auch bei den Gemeinderatswahlen zeigt. Besonders ausgeprägt ist diese Entwicklung in bestimmten Wiener Bezirken wie dem zehnten oder 15. Dort sind das durchschnittliche Einkommen und der formale Bildungsstand niedriger als in anderen, der Anteil an Arbeitslosen dafür höher.

Durch die hohe Anzahl der freiwilligen und unfreiwilligen Nichtwähler ist gerade in diesen sozioökonomisch schwachen Bezirken also auch die demokratische Beteiligung der Menschen am geringsten. Eine gefährliche Abwärtsspirale, die es zu durchbrechen gilt. (Doris Griesser, 5.9.2020)