Daniel Dettling, Jurist und Politikwissenschaftler, schreibt in seinem Gastkommentar über das bestehende Arbeitszeitmodell, das infrage gestellt wird.

Die Corona-Krise hat in vielen Ländern binnen weniger Wochen zum größten Einbruch der geleisteten Arbeitszeit geführt. Während Österreich und Deutschland über eine Verlängerung der staatlich geregelten Kurzarbeit nachdenken, schlagen der Vorsitzende der deutschen Gewerkschaft IG-Metall sowie Österreichs SPÖ-Vorsitzende Pamela Rendi-Wagner ein neues Modell vor, um Massenentlassungen zu verhindern: die betrieblich vereinbarte Vier-Tage-Woche.

Schon vor Corona wünschte sich eine deutliche Mehrheit der Arbeitnehmer mehr Zeit für Familie, Erholung und Weiterbildung. Wird Corona den Trend einer neuen Arbeitszeitgesellschaft beschleunigen?

Wer hat an der Uhr gedreht? In Deutschland wie in Österreich wird nach einer Reduzierung der Arbeitszeit gerufen.
Foto: Robert Newald

1918 wurde der Acht-Stunden-Tag in Deutschland und Österreich gesetzlich vorgeschrieben. Dabei war es ein Unternehmer, der die Arbeitszeitverkürzung erstmals forderte. Mit dem Slogan "Acht Stunden arbeiten, acht Stunden schlafen und acht Stunden Freizeit und Erholung" begründete Robert Owen aus Wales das neue Arbeitszeitmodell in den 1810er-Jahren. Mehr als 100 Jahre später wird das bestehende Arbeitszeitmodell infrage gestellt. Der Grund ist die weltweit größte Wirtschaftskrise seit 1945.

Höhere Produktivität

Corona wird den Strukturwandel in etlichen Branchen beschleunigen. Die Reduzierung der Arbeitszeit als Mittel gegen Massenentlassungen hat schon einmal funktioniert. 1993 vereinbarten die Tarifparteien in Deutschland die Vier-Tage-Woche für Volkswagen. Die Arbeitnehmer verzichteten auf rund zehn Prozent ihres Lohns und reduzierten ihre Arbeitszeit von 36 auf 28,8 Stunden. Auf die Woche verteilt verblieben sechs Stunden pro Tag. Gerettet wurden so 30.000 Arbeitsplätze. Im selben Jahr begann das Unternehmen unter Ferdinand Piëch seine Plattformstrategie und verkündete, VW zum größten Automobilhersteller der Welt machen zu wollen. Heute im Jahr 2020 führt das DAX-Unternehmen die globale Rangliste an. Die Vier-Tage-Woche hat nicht nur Personalkosten gespart, sondern auch neue Energien freigesetzt: eine höhere Produktivität und größere Innovationsstärke.

Kürzere Arbeitszeiten sind nicht nur ein innovatives Instrument in wirtschaftlichen Notsituationen, sondern ein gesellschaftlicher Trend. Wenn es nach den Beschäftigten ginge, wäre eine reduzierte Arbeitszeit längst die Norm. Ein Großteil der Arbeitnehmer hält den Acht-Stunden-Tag Umfragen zufolge fu¨r ein Auslaufmodell. Studien kommen zu dem Ergebnis, dass sich die Arbeitszeitwünsche von Männern und Frauen in den letzten Jahren immer mehr angenähert haben. Viele Paare wünschen sich, ihre Arbeitszeit gleichmäßiger aufzuteilen. Zu den Gründen gehört auch, dass eine steigende Zahl von Beschäftigten heute verdichteter arbeitet und deshalb gestresster ist als fru¨here Generationen. Die Zunahme von Krankheiten wie Burn-out und Depressionen belegen den Trend einer gestressten Arbeitsgesellschaft. Einer Studie der Swiss Life (Versicherung, Anm.) zufolge sind psychische Erkrankungen um fast 40 Prozent in den letzten zehn Jahren gestiegen.

Wahlmöglichkeiten

Der gesellschaftliche Trend "Zeit statt Geld" nimmt zu. Die Wahlmöglichkeit wurde erstmals 2018 in einen Lohntarif der Deutschen Bahn festgeschrieben. Die deutliche Mehrheit (56 Prozent) der Beschäftigten hat sich zur Überraschung der Arbeitgeber für mehr Urlaub entschieden. Bei den weiblichen Beschäftigten waren es fast zwei Drittel (63 Prozent). Die Zeit könnte auch für mehr Weiterbildung in den Betrieben oder zu Hause genutzt werden. Qualifizierung wird zur neuen sozialen Frage in der nächsten Arbeitswelt. Auf die neue digitale Arbeitswelt fühlt sich nur eine Minderheit der Beschäftigten vorbereitet. Besonders gering ist die Beteiligung an Weiterbildung dort, wo sie am meisten gebraucht wird: bei Beschäftigten mit Routinetätigkeiten, die zunehmend von Maschinen übernommen werden können. Mit einem "Freitag für Weiterbildung" könnten auch Branchen ein Privileg nutzen, das heute für einen Großteil der Bürobeschäftigten zur "neuen Normalität" gehört: das Homeoffice. Das Arbeiten zu Hause will eine große Mehrheit der Beschäftigten auch nach Corona zumindest teilweise fortführen. Ersten Studien zufolge ist die Produktivität höher, und die Fehltage sind geringer. "Weniger Stress, mehr Zeit für die Familie" titelte eine große deutsche Krankenkasse.

Attraktiver und besser

Beschäftigte anderer Branchen würden Einkommenskürzungen jedoch deutlich stärker als jene der gut verdienenden Industrie treffen. Dazu gehören die Berufe im sozialen Sektor. So sind Frauen die große Mehrheit der Beschäftigten in den körperlich und geistig anstrengenden Gesundheits-, Pflege- und Erzieherberufen. Kürzere Arbeitszeiten bei vollem Lohnausgleich würden diese Berufe attraktiver und besser machen – für Frauen wie für Männer.

Die ökonomischen Folgen der Corona-Krise erfordern innovative Antworten. Auch andere Branchen würden von Modellen wie der Vier-Tage-Woche und reduzierter Arbeitszeit profitieren. Die Menschen hätten mehr Zeit für Urlaub im eigenen Land, für Sport und Bewegung, Kultur und Kunst.

Der britische Ökonom John Maynard Keynes prognostizierte mitten in der Wirtschaftskrise der 1930er-Jahre für das Jahr 2030 den Drei-Stunden-Tag. Der Titel seines Aufsatzes hießt "Economic Possibilities for our Grandchildren". 2030 ist in zehn Jahren. Keynes Enkel sind heute wir. (Daniel Dettling, 3.9.2020)