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Über eine Ehe, in der bald keiner mehr über Halt verfügt: Alba Rohrwacher und Luigi La Cascio im Venedig-Eröffnungsfilm "Lacci".

Foto: Gianni Fiorito

Was verbindet einen Sohn mit seinem Vater? Manchmal nur die Art und Weise, wie beide ihre Schnürsenkel unorthodox binden. In Daniele Luchettis Lacci (The Ties) geht es, wie der Titel schon sagt, um die Bänder, die Menschen, insbesondere eine Familie, zusammenhalten. Der Szene, in der Vater Aldo (Luigi Lo Cascio) gemeinsam mit seinen Kindern die Schuhe schnürt, nachdem er sie ein paar Jahre nicht gesehen hat, kommt deshalb eine metaphorische Ebene zu. Ein Neuanfang als etwas patscherter Versuch, ein Verhältnis wieder in Gang zu bekommen.

In der Sala Darsena am Lido herrschte bei der Pressevorführung eine Stimmung bedächtiger Erwartung. Das sonstige Gewusel, der Austausch unter den nunmehr maskierten Besuchern ist deutlich gedämpft. Lautstark, mit Pathos und Emphase ging es dafür in Lacci zu, einem typisch italienischen Auftakt für das Filmfestival in Ausnahmezeiten. Das mit Italo-Schauspielstars wie Alba Rohrwacher, Laura Morante oder Silvio Orlando besetzte Familiendrama ist wohl auch deshalb zum Opener im Corona-Jahr vorgerückt, weil vergleichbare internationale Titel nicht zu haben waren.

In den Fußstapfen der Loren

Das macht aber nichts. Denn in den besten Momenten fühlt man sich hier an die schöne Tradition der "matrimonio all’italiana" erinnert. Alba Rohrwacher tritt mit trefflich überspannter Note in die Fußstapfen von Sophia Loren, wenn sie als von ihrem Mann betrogene Ehefrau um die Rettung ihrer Familie kämpft. Irgendwann wirft sie das Radio aus dem Fenster, in dem Aldos schöngeistige Literatursendungen laufen, dann springt sie sogar hinterher (und überlebt).

Luchetti will allerdings durchaus auf eine zeitgenössische Kritik eines traditionellen Eheverständnisses hinaus, in dem wider besseres Wissen an einem Rollenbild festgehalten wird, weil es die Konvention so erfordert. Sein Blick ist dabei voller Zwischentöne. Manche Szenen, in denen sich das Paar vor den Kindern beflegelt, sind richtiggehend schmerzhaft. In anderen kommt eine komische Note hinzu.

Im zweiten Teil des Films begegnet einem dann das Paar im Alter wieder. Noch einmal bietet sich eine Gelegenheit zur Abrechnung. Auch hier ist man vom Spiel der Darsteller (nun Morante und Orlando) gefangen, auch wenn das Drama um eine Windung zu konstruiert wirkt.

Held auf Identitätssuche

Stärker mit der pandemischen Gegenwart in Dialog stand der Eröffnungsfilm der Orrizonti-Sektion, Mila (Apples) vom griechischen Regisseur Christos Nikou. Menschen erleiden darin von einem Moment auf den anderen eine Amnesie, so auch der notgedrungen namenlose Held des Films. Nach einem Aufenthalt im Krankenhaus schickt man ihn zurück ins Leben, um sich in eine neue Identität einzuüben – jeden Tag erhält er eine Aufgabe, deren Gelingen er mit Polaroidkamera festhalten muss.

Mila ist streng kadriert und mit trocken-distanzierter Note inszeniert. Wie andere jüngere Filme aus Griechenland – Yorgos Lanthimos, bei dem Nikou auch assistierte, ist als Einfluss offensichtlich – dekonstruiert der Film das menschliche Treiben ein Stück weit ironisch und lässt es dadurch aus einem anderen Winkel neu betrachten. Richtig aberwitzig wird er dabei aber nicht. Vielleicht, weil die Wirklichkeit schon selbst bizarr genug erscheint. (Dominik Kamalzadeh, 3. 9. 2020)