Autorin Melisa Erkurt (links) und Bildungspsychologin Christiane Spiel (rechts) vor dem Campus im Sonnwendviertel. Ganztagsschulen sehen die beiden Expterinnen als Zukunftskonzept.

Foto: Regine Hendrich

Es ist eine der Fragen, die DER STANDARD den Userinnen und Usern im Rahmen der Aktion "Wien spricht" stellt: Bieten Wiens öffentliche Schulen eine gute Ausbildung?

"Ja, für alle Kinder, die Eltern zu Hause haben, die sie unterstützen", antwortet die Autorin, Journalistin und Lehrerin Melisa Erkurt, die mit dem Buch "Generation Haram" gerade ein vielbeachtetes Buch über die Defizite in Österreichs Schulsystem veröffentlicht hat. Sie sei, wie alle anderen Lehrerinnen und Lehrer, nicht für das Unterrichten von Kindern, die kein oder nur schlecht Deutsch sprechen, ausgebildet worden, kritisiert sie. Bei vielen Kindern stehe daher schon im Vorhinein fest, dass sie scheitern würden.

Mehr Praxis in der Klasse

Christiane Spiel, Bildungspsychologin an der Universität Wien, widersprach Erkurt in diesem Punkt: "Sie haben noch im alten Curriculum studiert", nun sei vieles besser, etwa die höhere Anzahl an Praxiseinheiten während der Ausbildung. Von Anfang an stehe man in der Klasse.

"Ich bekommen aber viele E-Mails von Studierenden, die genau das kritisieren, dass es immer noch nicht genug ist. Würde ich das Buch jetzt schreiben, würde es noch viel pessimistischer ausfallen", erwidert Erkurt. "Dann schreiben Ihnen hoffentlich nur die, die unzufrieden sind", so Spiel.

Erkurt fordert unter anderem einen Lehrstuhl für Bildung in der Migrationsgesellschaft, damit Lehrerinnen und Lehrern das Unterrichten von Kindern mit Deutsch als Zweit- oder Fremdsprache beigebracht wird. "Das ist nicht so leicht aus dem Boden zu stampfen", findet Spiel. "Ich kann manche Ihre Wünsche unterstreichen, aber wir können sie nicht erfüllen."

Es brauche auch Leute, die dafür ausgebildet seien, die wissenschaftliche und praktische Erfahrungen haben und aus dem deutschsprachigen Raum kommen. Auch im Bereich Schulsozialarbeit mangle es an geeignetem Personal, so Spiel, selbst wenn genug Budget vorhanden wäre.

Mehrsprachigkeit positiv

In anderen Punkten waren sich die beiden Expertinnen, die im Sonnwendviertel im 10. Bezirk von STANDARD-Chronik-Redakteurin Oona Kroisleitner befragt wurden, einig. Etwa darin, dass Mehrsprachigkeit positiv zu sehen sei. Erkurt kritisierte in diesem Zusammenhang Integrationsministerin Susanne Raab (ÖVP), die es negativ auslegte, wenn der Anteil an Schülerinnen und Schülern in Wien mit nichtdeutscher Erstsprache bei 52,5 Prozent liegt.

Spiel sagte, man müsse, um das Deutschlernen voranzutreiben, im elementarpädagogischen Bereich ansetzen. Nicht nur das letzte Kindergartenjahr müsse verpflichtend gemacht werden. Sie bedauerte, dass die Umsetzung bislang gescheitert sei – auch weil die Gemeinden und Länder sich querlegen würden.

"Bund, Land, Parteien wollen das und jenes nicht", pflichtete Erkurt ihr in Sachen Kompetenzdschungel bei. "Es ist nicht so leicht, Veränderungen durchzusetzen, weil im Bildungsbereich alles so lange dauert", sagte Spiel.

Erkurt stellte diese Antwort nicht zufrieden: "Bildungsminister Heinz Faßmann sagt: Warten Sie zehn Jahre. Das können wir uns aber nicht erlauben." Jugendliche würden von Generation zu Generation scheitern. Und das, obwohl schon vor vielen Jahrzehnten Gastarbeiter nach Österreich geholt wurden.

Bobo-Eltern als Schlüssel zum Erfolg

Auch über die Beteiligung der Eltern am Schulsystem wurde diskutiert. Erkurt vertritt die Ansicht, man müsse die "Bobo-Eltern" erreichen, ihnen die Schulen so schmackhaft machen, dass sie ihre Kinder überall hinschicken wollen. Dadurch würde der Ruf der Schulstandorte insgesamt steigen.

Gerade in der Corona-Zeit ist den Eltern ja eine besondere Aufgabe zugekommen, als sie die Kinder zu Hause unterrichten mussten. "So eine Krise deckt Missstände auf", sagte Spiel. Man müsse selbstorganisiert lernen können. "Doch wurde das selbstorganisierte Lernen vermittelt? Nein, natürlich nicht." Auch auf die Digitalisierung seien die Schulen nicht vorbereitet gewesen. "Manche haben nicht einmal einen Internetanschluss."

Nun gelte es, die Kinder "wieder zurückzuholen", damit die Auswirkungen des Lockdowns und der damit verbundenen Schulschließungen nicht noch größer werden.

"Deutschdefizite gab es schon vor Corona, das ist keine Nebenwirkung des Virus", sagte Erkurt. Die Sommerschulen begrüßt sie, aber: "Wenn das das Einzige ist, ist das nicht super." Es brauche nachhaltige Konzepte, die das ganze Schuljahr über umgesetzt werden.

Schulgebäude umbauen

Spiel fand positive Worte für Ganztagsschulen. Jedoch müssten die Gebäude dafür adaptiert werden. "Kinder können nicht den ganzen Tag auf ihrem Platz sitzen." Die Schulen müssten zudem ins Grätzel geöffnet werden, um nicht länger "geschlossene Anstalten" zu sein.

Auch Erkurt plädiert für die Errichtung von Ganztagsschulen. Menschen würden ihr sogar gratulieren, dass sie sich das öffentlich auszusprechen traue, berichtete sie. Auch sie sieht die Ausstattung als Grund für die Skepsis vieler: "Eine Ganztagsschule muss so sein, dass jeder Lust hat, sein Kind hinzuschicken." (Rosa Winkler-Hermaden, 3.9.2020)