Die Charité teilte am Mittwoch mit, dass der Gesundheitszustand von Alexej Nawalny weiter ernst sei.

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Berlin – Im Fall des aus Sicht der deutschen Bundesregierung vergifteten russischen Regierungskritikers Alexej Nawalny will Berlin mit den Verbündeten über Konsequenzen gegenüber Russland beraten. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags, Norbert Röttgen, forderte eine klare, harte und einheitliche europäische Linie.

"Jetzt sind wir erneut brutal mit der menschenverachtenden Realität des Regimes Putin konfrontiert worden", sagte der CDU-Politiker am Mittwochabend in den ARD-"Tagesthemen".

Beratungen mit Nato und EU

Die deutsche Bundesregierung sieht es als "zweifelsfrei" erwiesen an, dass Nawalny mit dem chemischen Nervenkampfstoff Nowitschok vergiftet wurde. Ein Speziallabor der Bundeswehr hatte dies festgestellt. Kanzlerin Angela Merkel sprach am Mittwoch von einem "versuchten Giftmord" an einem der führenden Oppositionellen Russlands: "Er sollte zum Schweigen gebracht werden."

Es stellten sich jetzt "sehr schwerwiegende Fragen", die nur die russische Regierung beantworten könne und müsse, sagte Merkel. Das Auswärtige Amt bestellte den russischen Botschafter Sergej Netschajew ein, um Russland dazu aufzufordern, "vollumfänglich und mit voller Transparenz" aufzuklären. Gemeinsam mit den Partnern in der Nato und in der EU werde man nun beraten und "im Lichte der russischen Einlassungen über eine angemessene, gemeinsame Reaktion entscheiden", sagte die Kanzlerin.

Nawalnys Zustand weiter ernst

Außenminister Heiko Maas (SPD) betonte, man werde in den nächsten Tagen darüber beraten, wie man darauf "angemessen reagieren" könne. "Darüber werden wir auch im Lichte dessen entscheiden, wie Russland sich verhält."

Nawalny, der am 20. August auf einem Flug in seiner Heimat plötzlich ins Koma gefallen war und zunächst in Omsk untersucht wurde, wird auf Drängen seiner Familie in der Charité behandelt. Die Charité teilte am Mittwoch mit, der Gesundheitszustand von Nawalny sei weiter ernst. Er werde weiter auf einer Intensivstation behandelt und künstlich beatmet.

Moskau dementiert

Das russische Präsidialamt hat eine Verantwortung an der Vergiftung Nawalnys zurückgewiesen. Daher gebe es auch keine Grundlage für Sanktionen gegen Russland in diesem Fall, erklärte der Kreml am Donnerstag. Russland kritisierte auch das Vorgehen der deutschen Bundesregierung. "Laute öffentliche Erklärungen werden bevorzugt", teilte das Außenministerium in Moskau russischen Agenturen zufolge mit. Putins Sprecher, Dmitri Peskow, betonte jedoch, dass Moskau auf die Erklärung aus Berlin zum jetzigen Zeitpunkt nicht "qualifiziert reagieren" könne. Russland sei bereit zu einer Zusammenarbeit mit den deutschen Behörden. Die russische Botschaft in Berlin warnte die Bundesregierung am Mittwochabend vor einer "Politisierung" des Falls Nawalny.

Der russische Geheimdienst spekuliert sogar über eine Verwicklung des Auslands. Die Regierung in Moskau könne nicht ausschließen, dass Spezialkräfte des Westens hinter der Vergiftung des 44-Jährigen stecken würden, zitierte die russische Nachrichtenagentur Ria am Donnerstag den Chef des Auslandsgeheimdienstes Sergej Naryschkin. Dieser erklärte demnach, russische Ärzte hätten keine Spuren des Gifts gefunden, nachdem Nawalny in ein russisches Krankenhaus eingeliefert worden sei. Merkel hatte am Mittwoch von einem Mordversuch auf Nawalny gesprochen und die russische Regierung aufgefordert, die Hintergründe aufzuklären.

Der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko ging noch einen Schritt weiter: Er habe Beweise dafür, dass der Giftanschlag vom Westen vorgetäuscht worden sei. Seine Geheimdienste hätten ein Telefonat zwischen Berlin und Warschau abgefangen, aus dem dies eindeutig hervorgehe, sagte Lukaschenko am Donnerstag. Damit solle Moskau von einem Eingreifen in Weißrussland abgehalten werden. "Es gab keine Vergiftung von Nawalny", sagte Lukaschenko bei einem vom Fernsehen übertragenen Treffen mit dem russischen Ministerpräsidenten Michail Mischustin in Minsk. "Sie taten es – ich zitiere –, um (den russischen Präsidenten Wladimir) Putin davon abzuhalten, seine Nase in die Angelegenheiten von Belarus zu stecken."

Grüne fordern Abbruch des Projekts Nord Stream 2

Der CDU-Außenexperte Röttgen forderte mit Blick auf mögliche Reaktionen: "Da muss alles auf den Prüfstand." Wenn es jetzt zur Vollendung des Gasprojekts Nord Stream 2 käme, dann wäre das die maximale Bestätigung und Ermunterung für Wladimir Putin, mit genau dieser Politik fortzufahren, wie der CDU-Außenexperte sagte. Mit dem Thema der Erdgasverkäufe muss nach Röttgens Worten der russische Präsident unter Druck gesetzt werden. "Die einzige Sprache, die Putin versteht, ist eine der Härte", betonte Röttgen am Donnerstag im Deutschlandfunk.

Der CDU-Außenpolitiker Jürgen Hardt bremst hingegen in der Debatte. "Wenn es am Ende um Sanktionen gehen sollte, kann man den Energiewirtschaft nicht außen vor lassen", sagte der außenpolitische Sprecher der Union am Donnerstag der Nachrichtenagentur Reuters. "Aber Nord Stream 2 ist dabei nicht die zentrale Frage", betont er. Es gehe vielmehr darum, wie viel russisches Gas man am Ende auf dem europäischen Energiemarkt wolle. Hardt erinnerte daran, dass auch das Gas, das durch die Ukraine nach Westen gepumpt wird, aus Russland komme. "Also ist nicht die Rohrleitung entscheidend, sondern die Frage, ob durch sie jemals Gas geleitet wird."

Die Grünen forderten indessen bereits einen Abbruch des deutsch-russischen Pipeline-Projekts. Merkel hatte noch am Dienstag bei einem Besuch ihres Wahlkreises gesagt, dass sie das Projekt vollenden wolle.

Reaktionen von Nato und EU

Auch forderte Röttgen ein Ende der speziellen Beziehungen zwischen dem Élysée-Palast und dem Kreml, zwischen Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron und Putin. Es liege an den Führungsländern, dass Europa aktive Außenpolitik gegenüber Russland betreibe. Röttgen erinnerte daran, dass Nord Stream 2 gegen die Mehrheit der europäischen Staaten realisiert worden sei. Im Deutschlandfunk sprach sich Röttgen für ein gemeinsames Vorgehen der Europäer aus. "Es muss eine politische europäische Antwort geben", sagte Röttgen, der zu den Kandidaten für den CDU-Vorsitz gehört. Diplomatische Reaktionen allein reichten nicht mehr aus.

Mehrere Bündnispartner sowie EU und Nato stärkten der Bundesregierung am Mittwoch den Rücken. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg kündigte an, mit allen übrigen Bündnispartnern mögliche Folgen zu erörtern. "Die Nato sieht jeden Einsatz von chemischen Waffen als eine Bedrohung des internationalen Friedens und der Sicherheit", erklärte Stoltenberg am Mittwochabend in Brüssel.

EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen sprach von einem abscheulichen und feigen Akt: "Die Täter müssen zur Rechenschaft gezogen werden." Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell betonte, die Europäische Union verurteile die Tat auf das Schärfste. Er sprach von einem Attentat und verlangte von Russland Aufklärung und Verurteilung der Täter. Der Chef der EVP-Fraktion im EU-Parlament und CSU-Vize, Manfred Weber, sieht "eine enorme zusätzliche Belastung der Beziehungen zu Russland". Darauf müsse die europäische und westliche Wertegemeinschaft geschlossen und entschieden reagieren, sagte Weber den Zeitungen der Funke-Mediengruppe.

Die EU-Kommission sieht allerdings von Sanktionen gegen Russland vorerst ab. Die Staatengemeinschaft könne erst dann neue Strafmaßnahmen verhängen, wenn bei einer Untersuchung herauskomme, wer für die nach deutscher Darstellung vorsätzliche Vergiftung verantwortlich sei, hieß es vonseiten der Kommission. (APA, red, 3.9.2020)