Die Österreichische Gebärdensprache ist als eigenständige Sprache in der Verfassung verankert. Eine Gleichstellung im Alltag bringt das nicht.

ÖGLB/ Kerstin Reiger

Die Österreichische Gebärdensprache (ÖGS) ist seit 2005 als eigenständige Sprache gesetzlich anerkannt. Eine zahnlose Gesetzesänderung sei es gewesen, große Änderungen für Betroffene habe es dadurch nicht gegeben, sagt der gehörlose stellvertretende Geschäftsführer des Schulungs- und Beratungszentrum Equalizent, Matthias Fenkart. Das Wiener Unternehmen wurde 2004 gegründet und unterstützt gehörlose und schwerhörige Personen sowie Menschen mit anderen Behinderungen unter anderem dabei, Arbeit zu finden. Die Anerkennung der Sprache hilft Fenkart im Alltag wenig: "Im Kino gibt es keine Untertitel, wenn ich einen Job suche, dann bekomme ich nicht automatisch einen Dolmetscher an die Seite gestellt. Der Rechtsanspruch ist nicht gegeben."

Die aktuelle Zahl der Menschen, für die ÖGS die Erstsprache ist oder die sie benutzen, ist nicht bekannt. Man schätzt sie auf 8000 bis 10.000 Menschen. Die letzte Erhebung sei mittlerweile 20 Jahre her, sagt Monika Haider, Geschäftsführerin von Equalizent. Gehörlosigkeit dürfe aus Datenschutzgründen wie auch jede andere Behinderung nicht mehr erhoben werden.

Zahlen und Daten fehlen

Für gut erachtet sie das nicht: "Wenn ich nicht weiß, was es für Bedürfnisse gibt, kann ich diese nicht erfüllen oder Strategien entwickeln." Dadurch passierten Dinge, über die Haider nur den Kopf schütteln kann: Es werde dann ein Bericht über Menschen mit Beeinträchtigungen gemacht, und die Interviews würden über das Telefon geführt. Ohne genaue Zahlen, wie viele Menschen ÖGS sprechen, könnten auch nicht genügend Gebärdendolmetscher ausgebildet werden, sagt Haider. Dies hat auch das Institut für Höhere Studien (IHS) 2014 in seinem Bericht zur Abschätzung der Bedarfslage in Bezug auf ÖGS-Dolmetscher angemerkt.

Um die 110 Gebärdendolmetscher gibt es aktuell in Österreich. Das sei zu wenig. "In Schweden oder Finnland sind es fünf- bis achtmal mehr als in Österreich, obwohl annähernd die gleiche Einwohnerzahl besteht", pflichtet Fenkart bei. Damit Equalizent Angebote entwickeln könne, arbeite man eng mit Organisationen zusammen, die ebenfalls mit Gehörlosen arbeiten. Es sollen keine Ausbildungen konzipiert werden, die am Arbeitsmarkt vorbeischrammen, sagt Haider. Equalizent hat seit 2012 über Vorbereitungslehrgänge in ÖGS und Kooperationen mit Bildungsträgern Berufsbilder, wie Zahntechnik, Kindergarten-Assistenz-Pädagogik oder aktuell Freizeitpädagogik für Gehörlose zugänglich gemacht.

Außenseiter im Jobmarkt

Die Hürde am Arbeitsmarkt für gehörlose Menschen ist auch ohne Corona groß. Über ein Stelleninserat an einen Job zu kommen sei schwierig, sagt Fenkart. Bei Inseraten, auf denen nur allgemeine Kenntnisse vermerkt sind und sich dann 200 bis 300 Personen bewerben, hätten Gehörlose kaum eine Chance. Wenn Fachkenntnisse gefordert werden, wie etwa spezielle Programmierkenntnisse, seien die Chancen besser, weil es weniger Bewerber gebe. In einem Assessment-Center können Betroffene ebenfalls schwer punkten: Vieles muss schnell gehen, und das Leseverständnis sei nicht so gut wie bei hörenden Menschen. Haider ergänzt: "Wenn Betriebe Lehrlinge aufnehmen und bei der Aufnahmeprüfung ein Aufsatz zu schreiben ist, wissen wir, dass Gehörlose nicht aufgenommen werden, wenn nicht darauf Rücksicht genommen wird, dass die deutsche Schriftsprache nicht ihre erste Sprache ist."

Viele Gehörlose seien auf den ersten Blick funktionale Analphabeten, die nicht sinnerfassend lesen und nach grammatikalischen Regeln einen Aufsatz schreiben können. Dies liege aber nicht daran, dass sie nicht die Fähigkeit dazu hätten, sondern es ihr Bildungshintergrund noch nicht zugelassen habe. 90 Prozent der gehörlosen Kinder werden in hörende Familien hineingeboren, sagt Haider. Vielen würde von klein auf beigebracht, sich der hörenden Gesellschaft anzupassen – Logopädieunterricht stehe im Fokus, die Allgemeinbildung sei dadurch verzögert. Damit sie genau wie Hörende sprechen, müsse sehr viel Zeit investiert werden, sagt Fenkart.

Für die Jugendlichen des Berufsorientierungskurs bei Equalizent gestaltet sich die Suche nach einem Ausbildungsplatz aufgrund der aktuellen Lage noch schwieriger als sonst. Fünf der sieben Teilnehmer haben bisher keine konkrete Aussicht auf eine Lehrstelle. Gesucht werden Lehrstellen als Maler, Koch, Bürokaufleute, oder in den Bereichen Einzelhandel, IT und Technik. Auch Praktikumsstellen wären möglich. (Stefanie Leschnik, 7.9.2020)