STANDARD: Frau Nayeri, Sie leben mit mehreren Sprachen, Farsi, Englisch und Französisch. Welche Effekte hat das auf Ihr Leben?

Nayeri: Vor allem denke ich daran, wie der Sprachwechsel für meine Mutter gewesen sein muss, als wir 1990 den Iran verließen und in die USA kamen. Ich war ein Kind, lernte rasch Englisch, aber meine Mutter hörte sich wie eine Ausländerin an und wurde behandelt, als wäre sie zurückgeblieben. Als ich dann in Frankreich lebte, wurde mir klar, wie schmerzhaft das ist. Ich war es gewohnt, als gebildete Person angesprochen zu werden, weil ich in den USA mit einem Princeton- und Harvard-Background so klang. In Europa kam ich schwer damit zurecht, wegen meines Akzents nicht mehr als Elite angesehen zu werden. Meine Mutter, die im Iran Ärztin war, wurde dort respektiert. Nach der Flucht erfuhr sie eine soziale Deklassierung. Ich realisierte, dass es ungerechtfertigt ist, wie wir auf Menschen mit anderen Sprachen blicken. Sie können Gelehrte sein, aber wir werten sie bloß wegen ihres Akzents sofort ab.

Eine Flüchtlingsfamilie, gestrandet auf Lesbos, Griechenland im Dezember 2015.
Foto: AFP/Messinis

STANDARD: Wie wurden Sie in den USA als Flüchtling aufgenommen? Wie hat sich die Haltung gegenüber Geflüchteten bis heute verändert?

Nayeri: Als ich nach Oklahoma kam, hatte ich das Gefühl, dass die Amerikaner die Aufnahme von Geflüchteten als ihre christliche Pflicht ansahen, weil sie unter besseren Umständen geboren worden waren. So steht es ja auch auf der Freiheitsstatue: Give us your tired, your weak, your wretched. Fünf Jahre nach meiner Ankunft erhielt ich die Staatsbürgerschaft, und alle freuten sich für uns. Aber in den vergangenen 30 Jahren hat sich die Welt verändert, es gibt mehr Feindseligkeit. Dabei haben die Menschen heute über das Internet Zugang zu globaler Information und zu anderen Kulturen. Aber das bringt anscheinend Leute hervor, die nichts anderes wollen, als ihre eigene kleine Welt zu schützen. Vielleicht ist es dieses Anspruchsdenken, dass sie verdienen, womit sie geboren wurden. Dabei haben sie dafür nichts geleistet. Ich würde eine Gesellschaft schaffen, in der die Wohlhabenden denjenigen, die es schwer haben, helfen. Eine Gemeinschaft, in der man nicht im Traum daran denkt, die Grenzen zu sperren und Menschen auszuschließen, die gefoltert wurden, die ihre Familie verloren haben, denen ihre Häuser zerstört wurden. Man sollte diese Menschen willkommen heißen, wenn man selbst in bessere Umstände hineingeboren wurde. Die feindseligen Parolen kommen gut an, weil damit komplexe Lebensumstände auf das Bild einer bedrohlichen Masse von Fremden reduziert werden. Das spricht die Ängste der Menschen an und unterdrückt Mitleid und Hoffnung.

STANDARD: Sie schreiben über verschiedene Möglichkeit der Assimilation. Was verstehen Sie darunter?

Nayeri: Ich mag das Wort nicht, denn es heißt, dass man seine Eigenart dabei aufgibt. Warum muss Assimilation immer nur von einer Seite ausgehen? Beiden Seiten müssen daran teilhaben. Mir gefällt der Ausdruck beiderseitige Assimilation, bei der sich die Menschen gegenseitig in liebevoller Weise beeinflussen. Das gilt ja auch für Beziehungen, zum Partner, zur Familie, zu Nachbarn. Je mehr Zeit man miteinander verbringt, desto ähnlicher wird man sich. Nur so können unsere Gesellschaften komplexer werden. Menschen, die nur von den Geflüchteten Assimilation fordern, berauben sich selbst der Chance, bereichert zu werden. In Deutschland z. B. würden diese Neuankömmlinge die deutsche Kultur genauso weiterverbreiten wie die Einheimischen deren Kultur.

STANDARD: Warum wählten Sie den provozierenden Titel "Der undankbare Flüchtling" für Ihr Buch?

Nayeri: "Undankbarer Flüchtling" ist ein Ausdruck, der Immigranten gern an den Kopf geworfen wird. Damit wird verlangt, dass der Immigrant seine Dankbarkeit gegenüber den Einheimischen auf nahezu theatralische Weise zum Ausdruck bringen soll. Was keinen Sinn macht, denn der Einheimische ist ja per Zufall dort geboren, wo es den Menschen besser geht. Er hat ja selbst nichts zu diesem Privileg beigetragen. Und die Geflüchteten haben nichts Falsches gemacht, sie wurden bloß in ein Land voller Konflikte hineingeboren. Dankbarkeit sollte etwas Privates sein wie in einer echten Beziehung zwischen Menschen. Auf Augenhöhe. Das ist nicht willkommen heißend, nicht neugierig auf den anderen. Neugierig auf den anderen zu sein bedeutet, dass du wissen willst, wer dieser Mensch ist. Wie er sich fühlt, was er vermisst. Wovor er sich fürchtet, was ihn verletzt und wie er in ein Leben zurückfinden kann, das ihm vertraut ist. Diese ständige Erwartung von Dankbarkeit verändert das Verhalten des Einheimischen gegenüber Immigranten.

"Die Geflüchteten haben nichts Falsches gemacht, sie wurden bloß in ein Land voller Konflikte hineingeboren." – Dina Nayeri

STANDARD: Die Geflüchteten, deren Geschichten Sie nachzeichnen, sind meist Männer. Sind die Erfahrungen von Männern andere als die von fliehenden Frauen?

Nayeri: Einzeln Reisende sind meist Männer. Die Frauen aus dem Nahen Osten, die ich getroffen habe, waren alle verheiratet und mit Familie unterwegs. Im Camp gibt es meist große Gruppen von Männern, die allein reisen. Die Betreuer dort sind beschäftigt und verbringen gerade mal fünf Minuten mit ihnen. Ich war bereit, mich zu unterhalten, Tee zu trinken, ihnen Zeit zu widmen. Sie schnitten einen Apfel für mich auf, den ich aß. Sie erzählten mir ihre Geschichten, und ich habe zugehört. Wir konnten Witze auf Farsi reißen und lachen. Das habe ich auch mit den verheirateten Frauen gemacht, habe zugesehen, wie sie Nudeln kochten und Teig kneteten. Jüngere, ungebundene Frauen, mit denen ich hätte reden können, habe ich kaum gefunden. Aber die Tatsache, dass diese Männer fliehen, ist erschütternd, weil sie ihre Fähigkeiten in den Herkunftsländern nicht entfalten können, wo sie in die Armee oder den Krieg geschickt werden. Wenn ihnen die Flucht gelingt, wird ihnen an der Grenze gesagt, dass sie nur Wirtschaftsflüchtlinge sind. Und deshalb nicht asylberechtigt. Aber ist nicht so ein verschwendetes Leben und sind nicht die Gefahren, mit denen man in diesen Ländern existiert, nicht genauso ein Asylgrund? Ich bin wütend über diese Grenze, die da zwischen Flüchtlingen aus wirtschaftlichen und aus politschen Gründen gezogen wird.

STANDARD: Sie schreiben über Probleme der Bewertung von Fluchtgeschichten in den Asylbehörden und kritisieren diese. Wo sind die Schwachstellen dieses Systems?

Nayeri: Diese Verfahren sind ungerecht, denn die Geflüchteten werden nach einer bestimmten Formel beurteilt. Wirkliche Lebensgeschichten sind immer voller Widersprüche, aber die Entscheider in der Asylbehörde warten nur darauf, winzige Ungereimtheiten zu entdecken, um eine Ablehnung zu rechtfertigen. Das ist kein ehrliches Zuhören im Sinne der Genfer Konvention. Das Verfahren ist abhängig davon, ob ein Asylbeamter die Geschichte des Geflüchteten glauben will oder nicht. Manche sind nicht mitfühlend genug, sie sind überarbeitet, manche glauben nicht einmal an das Recht auf Asyl. In der Genfer Konvention sind fünf akzeptierte Fluchtgründe vermerkt, um anerkannt zu werden. Alles andere wie Armut, Hunger, persönliche Konflikte gilt nicht. Aber man muss sich vorstellen, wie das in einem korrupten Land abläuft, wo jemand, mit dem du in Konflikt gerätst, zur Polizei gehört. Da würden die Entscheider dann sagen, ach nein, das ist ja nur ein privates Problem. Aber in Wirklichkeit ist es in einem korrupten Land durchaus möglich, dass man einen persönlichen Feind einfach umbringt, wenn man Teil der Macht ist, und eigentlich müsste das zu den akzeptierten Fluchtgründen gehören.

Dina Nayeri, "Der undankbare Flüchtling". € 24,70 / 400 Seiten. Kein-&-Aber-Verlag, 2020

STANDARD: Bei Ihren Recherchen verbrachten Sie Zeit in einem griechischen Flüchtlingslager und konnten fragwürdige Abhängigkeiten zwischen freiwilligen Helfern und Geflüchteten beobachten.

Nayeri: Diese Menschen meinen es gut, sind aber in einer privilegierten Position, und die Geflüchteten sind bedürftig nach Hilfe und Zuwendung, so entstehen komplizierte Beziehungen. Viele Helfer kommen, um sich selbst besser zu fühlen. Beide Gruppen wollen etwas von den anderen, was sie nicht wirklich geben können. Der Geflüchtete möchte, dass der Helfer mit ihm Zeit verbringt, seine Fluchtgeschichte anhört, ihm beim Asylantrag hilft, aber der Helfer hat nicht die Kompetenzen das zu erfüllen. Er hat vielleicht bloß das Bedürfnis, als guter Mensch dazustehen, und braucht den Geflüchteten, um ihm das zu bestätigen. Der wiederum ist traumatisiert und hat keine emotionalen Kapazitäten dafür.

STANDARD: Was kann man tun, wenn man helfen will? Wie soll man sich verhalten, sodass die Würde von Geflüchteten nicht verletzt wird?

Nayeri: Verhalte dich dem Geflüchteten gegenüber wie einem anderen "normalen" Menschen. Heiße ihn willkommen, sei neugierig, frag, wie er zu Hause gelebt hat, frag nicht sofort nach dem Grund, warum er geflohen ist. Frag, was er vermisst, hat er bestimmte Speisen, Lieder, Geschichten, von denen er dir erzählen will. Dann teil du dein Essen und deine Geschichten mit ihm. Mach einfach so, als wäre gerade ein neuer Nachbar neben dir eingezogen. Melde dich zu Freiwilligenprojekten, die sich um Essen, Kinder und Bürokratie kümmern. Wenn du Anwalt bist, berate Flüchtlinge kostenlos. Denn der erste schwierige Schritt für einen geflüchteten Menschen ist, dass seine Geschichte akzeptiert wird, damit er ein normales Leben beginnen kann. Setz dich dafür ein, dass Asylsuchende arbeiten dürfen. Das ungewisse Warten ohne Aufgabe schlägt schwer auf die Seele und ruiniert die Leute finanziell.

STANDARD: Warum haben Sie nach zwei Romanen ein Memoire verfasst?

Nayeri: Weil ich sah, was in der Welt passiert, wollte ich die Argumente über Flucht und Exil, die aus meiner Erfahrung stammen, ohne Schleier der Fiktion präsentieren.

(Sabine Scholl, 4.9.2020)