Die Staatsoper braucht Erneuerung: Am Montag steigt die erste Premiere der Direktion Bogdan Roščić

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Schnarchbude oder Musentempel? Touristenfalle oder Parnass der Künste? Paralleluniversum oder Bessergestellten-Musikantenstadl?

Die Ansichten über die Wiener Staatsoper sind so vielfältig wie ihr Repertoire. Auch als "Opernmuseum" wird das Haus am Ring oft bezeichnet – von den einen abschätzig, von den anderen wertschätzend. Richard Strauss hatte ein solches einst brieflich ersonnen, im April 1945, da war die fünfjährige Amtszeit des komponierenden und dirigierenden Direktors auch schon wieder zwei Jahrzehnte her. Rückwärtsgewandt war ja schon am 25. Mai 1869 der Geburtstag des Musiktheaterpalasts gefeiert worden, mit Mozarts 82 Jahre altem Lüstling Don Giovanni – falsch: mit seinem Don Juan, auf Deutsch.

Im Lauf der letzten eineinhalb Jahrhunderte wurde der Operntanker immer wieder renoviert – sowohl äußerlich als auch innen drinnen. Bei Gustav Mahler (seine Direktionszeit dauerte von 1897 bis 1907) war Strenge statt Schlendrian angesagt. Er ließ die Beleuchtung zu Beginn der Aufführungen zurückfahren und erlaubte den Zutritt nur in den Pausen.

Wider den Schlendrian

Mahler verbot die (bezahlte) Claque, im Orchestergraben machte der Direktor Schluss mit schlamperten Interpretationstraditionen. Und im szenischen Bereich ließ er nicht nur eine Drehbühne konzipieren, sondern entwarf in der Gesamtkunstwerkstatt gemeinsam mit Alfred Roller neue, entschlackte Bildwelten.

Zeitgemäße Bildwelten sind auch Bogdan Roščić wichtig. Der neue Staatsoperndirektor spricht im Vorwort zu seinem ersten Saisonprogramm von der "Verpflichtung", die präsentierten Opern "in Produktionen zu spielen, die ihre Bedeutung auf heutige Weise aussprechen".

So wird etwa ab März nächsten Jahres an der Staatsoper eine Violetta Valéry zu erleben sein, die in Simon Stones Inszenierung als Influencerin und It-Girl ihrem Ende entgegenhustet. Alles Instagram, oder was? Es bleibt zu hoffen, dass die eine oder andere Touristin, die während der Aufführung ihr Handy für Selfies gezückt hat, am Ende von Verdis La Traviata auch ein wenig Selbsterkenntnis durchzuckt.

Ohne Touristen

Apropos Touristen: Die Publikumsgruppe, die zuletzt etwa ein Drittel der (oft teureren) Karten gekauft hat, schrumpft aufgrund der Corona-Pandemie beträchtlich. Da die Abstandsregeln die Zuschauerzahlen zusätzlich dezimieren, könnte Roščićdiese vermeintliche Krise auch als Chance nützen, von der Auslastungsfixierung des Hauses abzukommen, die zuletzt jede Experimentierlust gehemmt hat. Sicher: Ein Novitätenhaus war die Staatsoper nie, dieses (ertragsarme) Geschäft besorgt in Wien die freie Musiktheaterszene (wie etwa das Sirene Operntheater, das gerade eine Serie von sieben Uraufführungen schupft). Immerhin wartet Roščić nicht ganz so lange wie sein Vorgänger mit einer Uraufführung zu: In der Spielzeit 2023/2024 soll es so weit sein.

Babylonische Sprachvielfalt

Das Thema der Öffnung des Hauses beschäftigte die meisten von Bogdan Roščićs Vorgängern: Herbert von Karajan (1956–1964) holte internationale Opernstars ans Haus und forcierte die Wiedergabe der Opern in ihrer Originalsprache – was nicht allen gefiel. 1963 musste das Premierenpublikum bei der Zeffirelli-Inszenierung von La Bohème wegen Unstimmigkeiten mit dem Betriebsrat wieder nach Hause geschickt werden, Bundespräsident Schärf inklusive.

In der Direktionszeit von Egon Seefehlner (1976–1982 und 1984–1986) ging die Staatsoper auf nationale und internationale Tourneen; durch TV-Übertragungen, Marcel Prawys Einführungsmatineen und erste Jugendprojekte wurden neue Publikumsschichten erreicht. Ioan Holender, der (fast) ewige Staatsoperndirektor (1992–2010), ließ Opernaufführungen auf dem Karajan-Platz vor der Staatsoper auf einen Großbildschirm übertragen und auf dem Dach des Hauses ein Zelt für Kinderopern errichten. Sein Nachfolger Dominique Meyer (2010–2020) eröffnete dank eines neuen Orchesterkollektivvertrags und einer Probebühne Möglichkeiten für eine intensivere Probentätigkeit.

Duft der weiten Welt

Bogdan Roščić (2020– ?) wiederum öffnet das Haus in seiner ersten Saison nun für "legendär gewordene, stilbildende" Inszenierungen und bringt so die weite Welt der gegenwartsnahen Opernregie in das Haus am Ring. Was nottut. Denn weder Holender, der absolut herrschende Sonnenkönig der Staatsoper, der das Haus auch als seine persönliche Bühne genoss, noch Dominique Meyer, der auf fernöstliche Weise leise und dauerlächelnde Diplomat, hatten auf diesem Gebiet Fortüne. Nun will Roščić das Haus rocken.

Die musikalische Exzellenz soll erhalten bleiben, das "Opernmuseum" soll aber auf szenischem Gebiet an die Gegenwart andocken. Damit die Wiener Staatsoper auf Kurs in Richtung gesellschaftliche Relevanz findet. (Stefan Ender, 5.9.2020)