Tilda Swinton wurde für ihr Lebenswerk ausgezeichnet – und begeisterte in "The Human Voice"

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Die Nachricht, dass Robert Pattinson an Corona erkrankt ist und der Batman-Dreh in den USA deshalb abgebrochen werden musste, erzeugte beim Filmfestival in Venedig ein leicht mulmiges Gefühl. Obwohl sich die Besucher äußerst diszipliniert an Abstand und Maskenpflicht halten – die wenigen Nasenbären im Kino werden mit einer Taschenlampe aufgespürt –, weiß man ja doch nicht so genau, wie sicher man in diesem kontrollierten Setting ist.

Dass deutlich weniger Besucher am Lido sind und die Sonne besonders hell auf den Palazzo del Cinema brennt, lässt das Treiben jedenfalls leicht surreal erscheinen; auch wenn alle froh sind, dass sie zumindest ein Tortenstück Realität zurückbekommen haben.

Löwe für ihr Lebenswerk

Tilda Swinton, die mit dem Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk ausgezeichnet wurde, betörte schon bei der Eröffnung mit Überschwang: "Viva Venezia! Cinema, cinema, cinema! Wakanda forever! Nothing but love!" Gemeinsam mit dem ähnlich exaltierten Pedro Almodóvar hat sie mit dem 30-Minüter The Human Voice einen veritablen Corona-Film mitgebracht. Das Setting ist strikt "indoor", eine Studio-Wohnung in Primärfarben, in der Swinton frei nach Cocteau eine Frau spielt, die umsonst auf die Rückkehr ihres Geliebten wartet.

The Human Voice ist ein Stück Meta-Kino von formvollendeter Eleganz, das man auch als Liebeserklärung an eine Schauspielerin sehen muss, die als Kunstfigur bravourös mit Posen jongliert. Die meiste Zeit am Telefon, stürzt sie von einem Gefühlszustand in den nächsten. Auf die Frage, was er aus einem brennenden Haus retten würde, hat Cocteau einmal geantwortet: "Das Feuer." Bei Swinton wird daraus die Lust, alles Sehnen und Leiden wegzubrennen.

Das Programm von Venedig mag durch die Covid-19-bedingten Verzögerungen im Auswertungsbereich dieses Jahr weniger starträchtig sein, an filmischer Vielseitigkeit mangelt es nicht. Außer Konkurrenz amüsiert Unterhaltungskino wie The Duke, eine wie geölt laufende Revision auf die Ealing Comedies der britischen Nachkriegsjahre, mit Jim Broadbent als schrulligem Sozialrebellen, der einen Goya aus der National Gallery stibitzt.

Musikalische Gurus

Im Wettbewerb bietet sich dafür die Gelegenheit, aufstrebende Talente prominenter als sonst zu platzieren. Besonders beeindrucken konnte bisher der 33-jährige Inder Chaitanya Tamhane, der in Venedig 2014 schon The Court präsentierte. The Disciple ist nun der erste indische Wettbewerbsfilm seit 19 Jahren. Er spielt im Milieu klassischer indischer Musiker: Sobald die Sänger zu ihren Raga ansetzen, ist man von den exotisch-archaischen Melodien dieser Gesangskunst, so fremd sie auch klingen, gebannt. In der Erzählung über die fast religiöse Hingabe eines Nachwuchsmusikers, der in Wahrheit nicht auf die Versuchungen eines modernen Lebens verzichten kann, geht es um den schwierigen Umgang mit dieser mythenschweren Tradition.

Konträr zu erbaulichen Musikerdramen, in denen den Helden irgendwann der Durchbruch gelingt, beginnt der Aufstieg von Sharad (Aditya Modak) bald zu stocken. Fehlt es ihm an Disziplin oder sogar an Talent? Andere singen besser, machen Karriere – er konzertiert weiter in mickrigen Sälen und hält an der vermeintlich reinen Lehre seiner Gurus fest, die ihn mit der Zeit immer bitterer werden lässt. Tamhane übersetzt diese Fallstudie einer schmerzhaften Selbsterkenntnis in Bilder eines lyrisch überhöhten Realismus, in dem jede Kamerabewegung stimmig erscheint.

Genozid in Srebrenica

Österreichisches Kino ist in Venedig in diesem Jahr nur in Form einer Koproduktion vertreten. Die Bosnierin Jasmila Žbanić beschäftigt sich in Quo Vadis, Aida? mit dem Genozid in Srebrenica im Jahr 1995. Ihre Perspektive ist klug gewählt, es ist die einer bosnischen Übersetzerin (Jasna Đuričić), die durch ihre privilegierte Rolle im UN-Flüchtlingslager die eigene Familie vor den Deportationen der Serben zu bewahren versucht.

Das tödliche Treiben vollzieht sich wie ein Uhrwerk, Autoritäten versagen, nur Aida kämpft wie eine Löwin – ein Einsatz, der dem Film seinen emotionalen Nachhall beschert. Andere Figurenzeichnungen hätte man sich trotzdem etwas stärker ausgearbeitet gewünscht. Für ihre Darstellung der niederländischen Blauhelme erntete Žbanić bereits von Zeitzeugen Kritik. (Dominik Kamalzadeh, 5.9.2020)