Am Montag beginnt für tausende Kinder in Ostösterreich wieder die Schule, und geht es nach Bildungsminister Heinz Faßmann (ÖVP), dann sollte am besten alles wieder wie früher werden. Vor Corona. Gut, jetzt eben mit Maske, Händewaschen, Distanz und so weiter – aber sonst? Erklärtes Ziel scheint zu sein, den Schulbetrieb in gewohnter Form wiederaufzunehmen. Das heißt: im Halbtagssystem verweilen, Bildungsungerechtigkeiten beibehalten, 45-Minuten-Einheiten, Prüfungen, Noten, fertig.

Ein vernünftiger Start ins so und so schon besondere Schuljahr? Oder eine verpasste Chance, zumindest kleine Änderungen im ohnehin behäbigen Bildungssystem endlich anzustoßen? DER STANDARD hat Expertinnen und Experten um ihre Einschätzung gefragt.

Fliegen lernen

Abschauen könnte man sich zum Beispiel etwas von der HTL Rankweil. Dort haben beherzte Lehrkräfte und engagierte Schülerinnen und Schüler über einen Zeitraum von mehreren Jahren ein sehr besonderes Projekt umgesetzt: Weil die Naturpark-Volksschule Hittisau ein neues Basislager für ihre zahlreichen Outdoor-Unterrichtsstunden benötigte, hat man die Kooperation mit den angehenden Technikerinnen und Technikern gesucht. An der HTL war man begeistert. Nach einem Wettbewerb mit externer Kommission wurde das Siegerprojekt gekürt und in unzähligen – auch privaten – Arbeitsstunden von Schülerinnen und Lehrkräften umgesetzt.

Das "Känzele" ist das Outdoor-Basislager der Naturparkvolksschule in der Vorarlberger Gemeinde Hittisau ...
Foto: Johannes Fink

Architektin Anne Tschabrun war eine der beteiligten Lehrkräfte – und ihre Verantwortung war groß. Doch es habe sich ausgezahlt: "Wenn die Jugendlichen merken, dass das auch konkret umgesetzt wird, sind sie sehr motiviert." Der Effekt: "Sie mussten fliegen lernen!" Und mit harter Kritik der externen Wettbewerbskommission umgehen. Tschabrun, die bereits das nächste Projekt mit ihren Schülerinnen und Schülern umsetzen will, sagt: "Wir sind oft schon betriebsblind, haben alle möglichen Bedingungen im Kopf – die Jungen hingegen sind unglaublich kreativ. Die denken nicht sofort: Ist das auch umsetzbar?"

Erziehungswissenschafter Michael Schratz vermisst seit Jahr und Tag ähnlich große Visionen im Bildungssystem: "Welche Schulen will ich haben?", fragt er. Und listet gleich auf, welche Wunden der Corona-Lockdown offengelegt hat: "Es braucht mehr Schulautonomie. Denn eines hat sich gezeigt: Es gibt keine zentralen Lösungen für lokale Probleme." Im Bildungsvorzeigeland Finnland gebe das Ministerium nur den Rahmen vor.

Mangel verwalten

Direktor Georg Waschulin freut sich über die ihm zugestandene Autonomie als Leiter des Wiener Gymnasiums Kandlgasse nur bedingt. Eine der Neuerungen, die etwa auch das Bildungsministerium in Pandemiezeiten empfiehlt, laute: "Den Unterricht entflechten!" Das heißt für Waschulin, er sollte Schülerinnen und Schüler aus verschiedenen Klassen nicht mehr in Englischgruppen zusammenfassen, nicht mehr in der Physikstunde vermischen, sie beim Werken separieren. Das Problem: Er bekomme "nicht eine Werteinheit mehr dafür", also keine zusätzlichen Stunden für die Pädagoginnen und Pädagogen. Direktor Waschulin ärgert sich: "Da werden Empfehlungen ausgesprochen, aber wir können sie nie im Leben umsetzen. Unsere Autonomie bedeutet, wir dürfen den Mangel selbst verwalten."

Den richtigen Zeitpunkt für den großen Kreativitätsschub im Schulbetrieb sieht er derzeit nicht. "Grundlegende Sachen brauchen einen Vorlauf. Wir waren aber ziemlich geschlaucht von diesem Frühjahr. Dabei haben wir viele innovative Lehrerinnen und Lehrer. Aber in dieser Zeit der allgemeinen Verunsicherung ist das zu viel."

... geplant und gebaut wurde die Holzkonstruktion von Schülerinnen und Schülern der HTL Rankweil. Die haben dabei "fliegen" gelernt, berichtet eine der verantwortlichen Lehrerinnen.
Foto: Johannes Fink

Michael Schratz hat als Sprecher des deutschen Schulpreises schon viele ausgezeichnete Schulen gesehen, keine davon setze darauf, die Kinder und Jugendlichen nur halbtags zum Lernen zu motivieren. Überhaupt gäbe es das Halbtagsschulmodell nur mehr als Relikt in einer Handvoll Länder. Hier gehöre also ebenso angesetzt, wie bei der frühen Trennung der Kinder nach zehn Schuljahren, ist sich der Erziehungswissenschafter sicher.

Wunschmusik würde das wohl Tina Dworschak, Leiterin von "Neustart Schule", einer Initiative der Industriellenvereinigung und ihrer Partner, nennen. Für sie ist einmal wichtig, dass der Schulbetrieb im Herbst geregelt anläuft. Substanzielle Reformen würden das System derzeit überfordern. Fundamentale Veränderungen bräuchten Zeit – natürlich auch, weil das Thema ideologisch aufgeladen ist und "weil man es mit traditionell starken Strukturen zu tun hat: dem Lehrerdienstrecht zum Beispiel". Und, muss man wohl anhängen: dem Föderalismus.

Anstecken lassen

Schulpreis-Initiator Schratz hätte einen Vorschlag, der sich vergleichsweise leicht in den Klassenzimmern umsetzen ließe: "Schule müsste den Kindern und Jugendlichen und deren Eltern nicht nur Sicherheit in Hinblick auf Hygiene bieten, sondern auch darauf achten, dass alle sich gut aufgehoben und angenommen fühlen." Die Lehrkräfte könnten mit ihren Klassen die Frage bearbeiten: "Was brauchen wir an der Schule, um gemeinsam die erforderlichen Kompetenzen zu erwerben?" – und nach einer Sammlung kontinuierlich diese Erfordernisse umsetzen und, wo nötig, Unterstützungssysteme schaffen.

Inhaltlich gebe es auch viel zu tun. Dworschak wie Schratz sehen Österreich in der Durchschnittsfalle. Das soll heißen: Es gibt viele Kinder, die am unteren Ende wegbrechen, gleichzeitig gibt es viel zu wenig Förderung für Begabte. Auch die IV hofft auf Ganztagsschulen, und zwar in verschränkter Form und mit Änderungen an den schulischen Schnittstellen. Und natürlich sollte der "Boost", den die Digitalisierung im Lockdown erfahren hat, genutzt werden. Die Summerschools sollten nachhaltig weiterentwickelt werden – nicht nur für Kinder mit schlechten Deutschkenntnissen. Warum nicht auch für Mathematik und Englisch: "Es sollte ein Angebot für alle Kinder sein."

Was die Deutschförderklassen anlangt, verfolgt das Ministerium auch in Corona-Zeiten seine Linie: Zwar sollen keine Schülergruppen vermischt werden. Andererseits will das alte System auch hier aufrechterhalten werden, heißt: 15 bis 20 Stunden pro Woche lernen Kinder verschiedenen Alters in der Deutschförderklasse, die restliche Zeit verbringen sie in ihren Regelklassen, verteilt über die Schule.

Das Outdoor-Basislager in Vorarlberg kann übrigens jeder besichtigen. Öffentlich zugänglich und unversperrt wartet es darauf, bewundert zu werden. Das begeistert auch diejenigen, die Schule so kennen, wie sie in Österreich normal war und oft immer noch ist. "Wo ist das Haus, das mein Enkel gebaut hat", fragte eine ältere Dame vor kurzem im Gemeindeamt. Ob die Kreativität des Projekts ansteckend ist? (Peter Mayr, Karin Riss, 5.9.2020)