Thomas (links) und Nicole (rechts) sehen sich als Ansprechpartner für alle, die im Grätzl leben.

Foto: Gabrielli/PSD Wien

Sozialorganisationen weisen per Flugblatt auf notwendige Abstandsregeln hin.

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Mit hochgezogener Kapuze und festen Schuhen starten Thomas und Nicole ihre Tour durch den sechsten Wiener Gemeindebezirk. Wegen ihrer knallroten Jacken sind sie auch im strömenden Regen von weitem erkennbar. So wie jeden Tag haben die beiden auch heute ihren Rucksack dabei. Darin befinden sich ein Beatmungsbeutel, Kondome, eine Greifzange und ein runder Behälter, in dem gefundene Spritzen gesammelt werden.

Nicole und Thomas sind Sozialarbeiter, und ihr Einsatzgebiet liegt dort, wo sich vermehrt Suchtkranke oder Obdachlose aufhalten. Die beiden sind Teil von "Sam plus", einem Team der Wiener Suchthilfe, das vor allem im sechsten Bezirk in der Gegend rund um die Notschlaf- und Beratungsstelle Jedmayer bei der U6-Station Gumpendorfer Straße unterwegs ist. Aber auch Teile des angrenzenden 5., 12. und 15. Bezirks werden mitbetreut. Ihr Ziel ist einerseits, Menschen, die von "sozialen Problemlagen" betroffen sind, wie es die Suchthilfe formuliert, in das Sozial- und Gesundheitssystem zu integrieren. Andererseits geht es aber auch darum, ein "sozial verträgliches Nebeneinander" im öffentlichen Raum für alle zu ermöglichen.

Schwieriger Interessenausgleich

Soll heißen: Die Interessen und Nöte von Anwohnern, Geschäftstreibenden sowie Suchtkranken sollen so gut wie möglich unter einen Hut gebracht werden. Es ist ein mitunter schwieriges Unterfangen, die verschiedenen Interessen auszugleichen – und auch nicht immer möglich. "Wir arbeiten mit Wechselparteilichkeit", sagt Thomas. "Aber natürlich unterstützen wir die mehr, die den größten Bedarf haben." Im August verzeichnete man etwa 700 Kontakte zu Marginalisierten, davon machten Frauen circa ein Fünftel aus. Zusätzlich habe man 100 Anrainergespräche geführt und 36 zum Teil "zeitintensive" Beschwerden bearbeitet.

In das, was die beiden Sozialarbeiter machen, will die Stadt Wien künftig noch mehr investieren. Vier Millionen Euro kostet ein Maßnahmenpaket, das zur zusätzlichen Versorgung Suchtkranker beitragen soll. Der Fokus liegt dabei vor allem auf dem öffentlichen Raum: Rund 15 Sozialarbeiter sollen in dem Bereich zusätzlich aktiv werden, mit besonderem Augenmerk auf Alkoholkranke und Heroinabhängige, die die Droge intravenös im öffentlichen Raum oder fremden Hauseingängen konsumieren. Ziel ist, die Personen in Behandlung zu bringen.

Spritzenentsorgung

Die Maßnahme habe nichts mit der bevorstehenden Wien-Wahl zu tun, wird vom Wiener Drogenkoordinator Ewald Lochner betont. Vielmehr sei sie als Antwort auf eine Analyse zu Verkehrsknotenpunkten zu verstehen, die die Stadt Wien selbst vor einem Jahr vorgelegt hat. Unter anderem bei der U6-Station Gumpendorfer Straße hat man "hohen Handlungsbedarf" erkannt. Dort halten sich täglich etwa ein bis zwei Dutzend Suchtkranke auf, auch gedealt wird mitunter. Die Polizeipräsenz wurde bereits vergangenen Sommer erhöht.

Ein paar Schritte von der U-Bahn-Station entfernt liegt der Fritz-Imhoff-Park, ein kleiner Park mit ein paar Bänken, der von Anrainern genutzt wird. Thomas und Nicole durchstreifen die Flächen, halten auch Nachschau beim Spielplatz. Manchmal finden sie dort Spritzen, die sie dann fachgerecht entsorgen. Deshalb starten die Sozialarbeiter schon recht früh mit ihren Rundgängen, meist um 7 Uhr. Der Diskurs über Spritzen werde besonders emotional geführt, seit sich vor zwei Jahren ein Mädchen in der Nähe an einer Spritze verletzt hat, sagt Martin Tiefenthaler, Leiter des Sam-plus-Teams. Es sei verständlich, dass man als Anrainer damit nicht in Berührung kommen möchte. Aber: "Gewisse Widersprüche können auch wir nicht auflösen."

Auch in Stiegenhäusern der Umgebung kommt es hie und da vor, dass Konsumspuren entdeckt werden. Melden sich Anrainer bei der Suchthilfe, kommen auch dort Sozialarbeiter vorbei. Neben Aufklärung, Beratung und Müllentsorgung bleibt ihnen aber nicht recht viel mehr an Möglichkeiten zu intervenieren. "Eines muss man sich schon bewusst machen", sagt Tiefenthaler: "Niemand konsumiert gerne im öffentlichen Raum oder in fremden Stiegenhäusern. Keiner führt so ein Leben, weil es lustig ist."

Letzter Ausweg öffentlicher Raum

Ein Drogenkonsumraum, wo Abhängige legal Suchtmittel einnehmen können, existiert in Wien nicht. Im Gegensatz etwa zu einigen deutschen Städten oder der Schweiz. Man könne also nur Schadensminimierung betreiben und appellieren, nichts liegen zu lassen, sagt Nicole. "Wenn man nicht wohnversorgt ist, bleibt einem nur der öffentliche Raum", sagt Tiefenthaler.

An offizieller Stelle sieht man für einen Konsumraum "derzeit die Notwendigkeit nicht gegeben": Konsumräume seien zwar eine Möglichkeit, Gefahren zu minimieren, sagt Drogenkoordinator Lochner. Aber das gelte für Städte, in denen es keinen flächendeckende, niederschwellige Versorgung suchtkranker Menschen gebe. In Wien verfolge man daher die Strategie, dass möglichst alle Menschen wohnversorgt sind. Das habe man "zum überwiegenden Teil" bereits geschafft, viel wichtiger sei der Ausbau der Substitutionstherapie in Verbindung mit sozialen Maßnahmen.

Inwiefern Corona Auswirkungen auf die Zielgruppe der Sozialarbeit hatte – oder sich die Zielgruppe in den letzten Monaten gar vergrößerte –, sei noch nicht seriös abschätzbar, sagen Verantwortliche. Was man bisher weiß: Der Alkoholkonsum von Personen, der zuvor schon an der Grenze zum Problematischen war, ist gestiegen, zudem gibt es mehr Rückfälle. Sozialorganisationen berichten zudem schon seit Monaten von gestiegenem Bedarf an Hilfsleistungen. Was man auch weiß: Für die Essenspakete, die Sozialarbeiter wie Thomas und Nicole seit der Corona-Pandemie mithaben, gibt es Bedarf. In jedem Fall wird der Herbst, sollte es wieder zu mehr Beschränkungen kommen, eine Herausforderung. Denn selbst ohne Corona wird der Aufenthalt im öffentlichen Raum bei niedrigeren Temperaturen schwieriger – und für die Betroffenen auch gefährlicher. (Vanessa Gaigg, 16.9.2020)