"Art is for everybody": Keith Harings dynamische Figuren gibt es nun in Essen zu sehen.

Keith Haring Foundation

Sie kämpfen sich durchs Leben, tanzend, boxend, ineinander verknäult. Die scheinbar aus der Comic-Welt desertierten Männchen sieht man nie bewegungslos. Was treibt sie an? Der Wille zum Erfolg? Für ihren Erschaffer kam dieser sicherlich unerwartet, denn dass die Kunstwelt jemals seine Straßenpoesie goutieren würde, damit konnte Keith Haring, als er mit 20 Jahren von Pittsburgh nach New York umzog, nicht rechnen.

"Art is for everybody" war von Anfang an sein Credo, eine hochgradig demokratische Kunst, die weder zum Distinktionsvehikel noch Investitionsobjekt taugen sollte. Dass ausgerechnet er vom Kunstmarkt später hofiert wurde wie kaum ein anderer Künstler seiner Generation, ließ seine politischen Botschaften rückblickend in den Verdacht einer kommerziellen Strategie geraten.

Vielleicht ahnte Haring schon früh die Gefahr und verkroch sich deshalb in die New Yorker U-Bahn. Hier funktionierte er die schwarzen Tafeln, die eigentlich als Platzhalter für Werbeplakate dienten, zu Leinwänden für Kreidezeichnungen um. Seine Subway-Drawings wimmelten vor bellenden Hunden, Radiogeräten oder Strahlenbabys. All diese Geschöpfe sprangen die vorbeieilenden Passanten geradezu an und blieben im Gedächtnis hängen, auch bei denjenigen, die noch nie eine Galerie betreten hatten.

Rohe Gewalt bis Safe Sex

Dreißig Jahre nach Harings Aids-Tod trifft man sie in der aus der Tate Liverpool kommenden Retrospektive im Essener Museum Folkwang wieder wie alte Bekannte. Fast ein Wunder, denn mit dem steigenden Ruhm fanden sich auch Diebe, die das kostbar werdende Gut nicht teilen wollten. Auf Vinylplanen, in Zeichnungen und Siebdrucken fiebert diese Welt einer anderen Gesellschaft entgegen – einer, die nicht das Militär hochjubelt und eine atomare Auseinandersetzung anstrebt.

Kaum ein brisantes Thema, das Haring nicht in sein Pop-Art-Alphabet übersetzt hätte, von roher Gewalt bis zu humorvollen Kampagnen für Safe Sex. Sein kritischer Blick endete nicht bei den Problemzonen der USA. Als Beitrag im Kampf gegen das Apartheid-Regime in Südafrika steuerte er 1985 das Poster Free South Africa bei mit einer schwarzen Figur, die von einer weißen Figur an der Leine geführt wird.

Die an Titelseiten der New York Post erinnernden Collagen verteilte Haring gar persönlich als Flugblätter auf der Straße. Sie sprechen sich gegen die Politik von Ronald Reagan aus und verzichten gänzlich auf die Wiedererkennbarkeit des Strichmännchen-Looks. Nicht so die beinahe prophetische Medienkritik.

Mitunter ersetzen Fernsehgeräte oder Computer die Köpfe der Figuren. Auf dem Monitor sind dann Gehirne zu sehen, deren Konturen zu zerlaufen drohen. Wenn man nicht dem Lauf einer Schlangenlinie mitten in eines der Labyrinthe folgt, dahin, wo die grafische Matrix eines verspielten Virtuosen am intensivsten zu erleben ist, begegnet man Objekten, die in Kooperation mit anderen Künstlern entstanden: beispielsweise dem Beatnik-Veteranen William S. Burroughs.

Gekreuzigte als Lieblingsmotiv

Auf Fotografien und Videos sieht man Haring bei der Arbeit, auf einer Party mit Andy Warhol oder in Bars mit lauter Musik – eine Konstante der Essener Schau, die mit akustischer Untermalung nicht geizt. Welche Agenda verfolgte Haring aber mit den vielen Gekreuzigten? Ob sie mit HIV infiziert sind? So wie er selbst, der sich mit seiner Kunst gegen das Virus so lange auflehnte, bis er 31-jährig den Kampf verlor. Das Kreuz war natürlich nie zufällig gewählt. Es war Symbol für evangelikale Eiferer, die seine homosexuelle Orientierung ablehnten.

"Es gibt ein Publikum, das ignoriert wird", bemerkte Haring kurz vor seinem Tod im Tagebuch. "Aber das bedeutet nicht, dass sie ignorant sind. Sie sind offen für die Kunst, wenn die Kunst offen ist für sie."

Und wer hätte gedacht, dass sein tief in den 80ern verwurzeltes Werk vierzig Jahre später aktueller sein würde denn je? In Zeiten von Corona rückt nicht nur die anfängliche Hysterie um Aids näher, auch der moralische Trümmerhaufen, in den Donald Trump die USA verwandelt, scheint in Harings Kosmos plötzlich auf einem monströsen Wimmelbild aufzutauchen – eine beängstigende Flaschenpost zwischen Hieronymus Bosch und Robert Crumb, die heute nicht sicherer ins Schwarze treffen könnte. (Alexandra Wach, 8.9.2020)