Eine neue Schule, ein neues Schuljahr – aber kein sicherer Schulweg. 1.500 Kinder sind scheinbar kein Grund für Maßnahmen.

Foto: Fischer

So eine Ampel ist super. Gut sichtbar und leicht verständlich. Grün bedeutet: Alles okay, los geht’s. Rot bedeutet: Stopp, Gefahr! Dem ganzen Land ließ sich eine Corona-Ampel verordnen, an einem gefährlichen Wiener Schulweg eine zu errichten scheint hingegen unmöglich zu sein – zumindest wenn es nach dem Büro der grünen Vizebürgermeisterin und Verkehrsstadträtin Birgit Hebein geht.

Dabei verkündete sie zuletzt in der "ZiB 2": "Der Schutz der Kinder geht vor." Was für ein temporäres Problem wie Corona gilt, sollte für die dauerhafte Bedrohung durch einen gefährlichen Schulweg erst recht gelten. Stichwort Nachhaltigkeit.

Gesetz des Stärkeren

Im zweiten Bezirk eröffnet nach den Herbstferien das BRG/BORG Lessinggasse. 1200 Schülerinnen und Schüler werden in die um- und ausgebaute Schule übersiedeln, ein Großteil davon wird sie über die Vereinsgasse erreichen. Und viele werden dazu die nahe Heinestraße überqueren müssen.

Das ist der Weg, auf dem schon jetzt viele Eltern ihre Kinder in die neben dem BRG/BORG gelegene Volksschule Vereinsgasse bringen. Die Querung Heinestraße/Vereinsgasse ist eine nicht regulierte Kreuzung mit zwei Nebenfahrbahnen, die Heinestraße eine der Einfallstraßen für den Verkehr, der sich am Praterstern verteilt. In der Mischung aus morgendlicher Hektik und dem auf der Straße so oft gesehenen Gesetz des Stärkeren ist die Kreuzung selbst für Erwachsene eine Herausforderung. Dabei wurde sie erst im Vorjahr mit viel Aufwand neu gestaltet.

Das Ergebnis betrachten Barbara Laa und Ulrich Leth bei einem Lokalaugenschein mit einiger Verwunderung. Laa und Leth haben Verkehrsplanung und Verkehrstechnik studiert und arbeiten als Assistenten an der TU Wien. Die Gehsteigverbreiterungen, die sogenannten Ohrwascheln, sagen sie, gehörten viel weiter in die Fahrbahn hineingebaut. Das würde diese verschmälern, ein Bremseffekt auf den Verkehr könnte erzielt werden, Kinder und Jugendliche könnten die dadurch schmäler werdende Straße sicherer überqueren. Noch besser wären Tempo 30 und eine Ampel.

Überforderte Kinder

Durch bauliche Regulierungen müsste außerdem unterbunden werden, dass am Ende der einspurigen Vereinsgasse Autos nebeneinanderstehen und in beide Richtungen abbiegen können. Diese Situation blockiert den Radverkehr und gefährdet die Fußgänger zusätzlich, sagen Laa und Leth.

Jene 350 Autos, die in der neuen Tiefgarage unter dem BRG/BORG parken und künftig über die Vereinsgasse wegfahren, werden die Situation zusätzlich belasten, auch das sei fragwürdig.

Kinder und Jugendliche sind mit so einer Verkehrssituation überfordert. Österreichweit ereigneten sich im Vorjahr 3.589 Straßenverkehrsunfälle mit Kindern im Alter von sechs bis 15 Jahren, 13 Schüler verunglückten laut Kuratorium für Verkehrssicherheit tödlich. Jeder siebente Verkehrsunfall in dieser Altersgruppe (510 Unfälle) ereignete sich auf dem Schulweg, vier von zehn Kinder waren zum Unfallzeitpunkt als Fußgänger unterwegs. Vier verstarben auf dem Weg in oder von der Schule.

Bisher ist ja nix passiert

Bettina Schützhofer ist Verkehrspsychologin und Geschäftsführerin der Plattform "Sicher unterwegs". In Videos erklärt sie die Gefahren im Verkehr, denen Kinder und Jugendliche ausgesetzt sind: Erst mit acht Jahren verfügen diese über einen zuverlässigen Gehörsinn, erst im Alter von 14 ist die kindliche Reaktionsgeschwindigkeit voll ausgebildet, erst ab zwölf Jahren vermögen sie abstrakt zu denken; das heißt, dass sie ihr erlerntes Verhalten in einem Verkehrsabschnitt auf einen anderen übertragen können. Auch ist das kindliche Gesichtsfeld ein anderes als das von Erwachsenen.

Die Vizebürgermeisterin fand für einen Lokalaugenschein keine Zeit. Auf schriftliche Anfrage argumentiert das Büro Hebein damit, dass "im Zeitraum vom 1. 1. 2017 bis 31. 12. 2019 im Kreuzungsbereich kein Unfall mit FußgängerInnen registriert" wurde. In dem Zeitraum waren auch nicht täglich 1500 Schüler unterwegs, weil das BORG noch eine Baustelle war.

Weiters sei "die Kreuzung Heinestraße/Vereinsgasse laut Schulwegplan kein empfohlener Schulweg". Dem stimmen sicher viele Eltern und Kinder zu, die beiden Schulen mit rund 1500 Schülerinnen und Schülern liegen aber in dieser Gasse. Und schließlich wird mit der auf der Heinestraße liegenden Straßenbahntrasse argumentiert. "Es verlaufen dort Gleise, die sowohl vormittags als auch nachmittags für Einschubfahrten und für die Kurzführung der Straßenbahnlinie 5 genutzt werden."

Andere Wahrnehmung

Anrainer haben da eine andere Wahrnehmung: Ein Geschäftsmann auf der Heinestraße sagt, er sehe oft tagelang keine Straßenbahn fahren.

Da muss sich die Stadt die Frage gefallen lassen, was wichtiger ist: die Sicherheit von 1500 Kindern oder die freie Fahrt auf einem kaum genutzten Nebengleis. Dabei hat die Stadtregierung erst im Juni angekündigt, Wien zur kinder- und jugendfreundlichsten Stadt machen zu wollen. Ohne sichere Schulwege wird aus diesem Ansinnen nichts werden. (Karl Fluch, 8.9.2020)