Die diversen Konvergenztheorien, dass engere Wirtschaftskontakte zwischen Ost und West – "vom Handel zum Wandel" – als Hebel zur "Aufweichung" der kommunistischen Diktaturen wirken würden, erwiesen sich nicht nur in den Jahrzehnten vor dem Zusammenbruch des Ostblocks immer wieder als Wunschträume. Der britische Premierminister David Lloyd George sagte bereits am 10. Februar 1922: "Nach meiner Ansicht wird der Handel sicherer als irgendeine andere Methode der Grausamkeit, Gewalttätigkeit und Primitivität des Bolschewismus ein Ende bereiten. Ich glaube, wir können Russland durch Handel retten."

Das russische Verlegeschiff Fortuna wartet auf den Weiterbau der Gas-Pipeline Nordstream.
Foto: imago/Jens Koehler

Die Debatten über die Sinnhaftigkeit von neuen Wirtschaftssanktionen des Westens als Antwort auf die Vergiftung des russischen Oppositionspolitikers Alexej Nawalny scheinen den Verdacht zu bestätigen, dass die hundert Jahre alte These über den Wandel der Diktaturen durch Handel in manchen EU-Kanzleien noch immer herumgeistert. Übrigens zeigt das chinesische Beispiel, dass selbst nach einem phänomenalen Wirtschaftsaufstieg die brutalsten Methoden zur Verteidigung der Diktatur nicht durch Rücksicht auf die Wirtschaft oder gar auf westliches Medienecho, sondern ausschließlich durch die Überlebensinstinkte der Machthaber bestimmt werden.

Es mutet deshalb immer seltsam an, dass nicht wenige Politiker in den EU-Staaten glauben, man könnte Präsident Wladimir Putin mit der Drohung eines Baustopps der russischen Gasleitung Nord Stream 2 nach Deutschland zu einer Selbstentlarvung seiner in 20 Jahren aufgebauten Machtstruktur durch die Untersuchung des Anschlags gegen seinen gefährlichsten Gegner zwingen. Angesichts der demonstrativen Rückendeckung des US-Präsidenten Donald Trump für den von ihm bewunderten Putin wirken die rhetorischen Anmahnungen des Nato-Generalsekretärs Jens Stoltenberg geradezu lächerlich.

Sanktionen

Schließlich zeigt etwa die Forderung des gesamten Landtags in Mecklenburg-Vorpommern nach "ordnungsgemäßer" Fertigstellung der Gasleitung von Russland nach Deutschland durch die Ostsee bis zum Mukran Port, Deutschlands nordöstlichstem Seehafen, dass hinter Nord Stream 2 auch handfeste deutsche Interessen in einer strukturschwachen Region stehen. Darüber hinaus geht es auch um die Beteiligung von fünf Energiekonzernen aus Westeuropa (auch der OMV) an den beiden Ostseepipelines.

Neue wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland vor dem Hintergrund der von der Pandemie bereits hart getroffenen westeuropäischen Exportwirtschaft würden übrigens, und nicht nur in Deutschland, Proteste der im Osthandel exponierten Unternehmer auslösen.

Die machtbewussten Autokraten von Moskau bis Peking scheinen von der zeitlos zynischen Antwort Lenins auszugehen: "Die Kapitalisten werden uns noch den Strick verkaufen, mit dem wir sie aufknüpfen." Der sozialdemokratische deutsche Ex-Kanzler Gerhard Schröder, der Vertraute Putins, hat von Anfang an eine Schlüsselrolle bei den russischen Gasleitungsprojekten gespielt. Auch im Fall Nawalny dürften wie nach der Annexion der Krim und der Intervention in der Ostukraine die finanziellen Interessen der deutschen Energiewirtschaft letzten Endes stärker erweisen als der Wertekanon der EU. (Paul Lendvai, 8.9.2020)