Der Med-Uni-Campus AKH zählt zu den Leuchtturmprojekten und soll drei neue Forschungszentren erhalten – für Translationale Medizin, Präzisionsmedizin und Technologietransfer.

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"Wir loben unser Gesundheitssystem gerne als eines der besten, meiner Meinung nach zu Recht", sagte Standortanwalt Alexander Biach bei der Präsentation einer volkswirtschaftlichen Analyse der Gesundheitsbranche in Wien. In Auftrag gegeben wurde sie von der Stadt Wien. Zentrales Ergebnis: Ein Viertel der gesamten Wertschöpfung ist auf den Gesundheitssektor zurückzuführen. Der Job jeder vierten Wienerin und jedes vierten Wieners hänge sogar an der Branche.

Ein Konsortium, bestehend aus Stadt Wien, Wirtschafts- und Ärztekammer, Gesundheitskasse, Industriellenvereinigung sowie dem Verein Praevenire, möchte die Bundeshauptstadt bis 2030 nunmehr zum international führenden Gesundheitsstandort weiter ausbauen. 223 Millionen Euro werden in Großprojekte investiert und binnen der nächsten drei bis fünf Jahre realisiert.

Der Ausbau des Vienna Bio-Centers, ein neues Technologiezentrum, der Bau des Hanusch-Pavillons 6, das Future Health Lab sowie die Weiterentwicklung des Med-Uni-Campus AKH sind Leuchtturmprojekte. Finanzstadtrat Peter Hanke (SPÖ): "Spitzenmedizin, leistbarer Zugang zu Pflege und Gesundheitsdienstleistungen, erfolgreiche Forschung – dafür braucht es starke Partnerschaften und eine zukunftsorientierte Wirtschafts- und Innovationsstrategie."

Leise kritische Töne waren von Ärztekammer-Präsident Thomas Szekeres und Ex-Finanzminister Hans-Jörg Schelling (ÖVP) zu vernehmen. Während der eine von "in die Jahre gekommenen Infrastrukturen" sprach, diagnostizierte der andere "wahrlich auch Mängel im Gesundheitssystem".

Deep Impact

"Wir haben den enormen wirtschaftlichen Impact der Gesundheitsbranche extrem unterschätzt. Darauf müssen wir aufbauen", sagte Standortanwalt Biach und nannte vier zentrale Themenfelder, um die Spitzenposition zu stärken: Forschung, Digitalisierung, Wachstum sowie Ausbau des internationalen Medizinstandorts. "Wien könnte bis 2030 zur Weltstadt der Medizin werden."

Denn Gesundheit und Medizin seien die Wachstumsbranchen der kommenden Jahre. Jetzt gelte es, die Infrastruktur auszubauen und Institutionen wie die Internationale Zertifizierungsstelle von Medizinprodukten und In-vitro-Diagnostika nach Wien zu holen. Letzteres sei bereits in die Wege geleitet. Wie wichtig das für den Standort Österreich sei, habe die Corona-Krise verdeutlicht.

"International spielen wir an der Spitze mit. Zu einer erfolgreichen Gesundheitsmetropole gehört aber auch eine funktionierende Gesundheitsinfrastruktur. Die Basis dafür besteht in Wien zweifelsohne", sagte Ärztekammer-Präsident Szekeres. Teile davon seien allerdings schon in die Jahre gekommen. Deren Defizite zu beheben sei Aufgabe der Politik. "Unser Job ist es, die Schwächen aufzuzeigen, unser Know-how einzubringen und gemeinsam an Lösungskonzepten zu arbeiten."

Lob verteilte Szekeres vor allem für die Arbeit des AKH in der Corona-Pandemie. "Wir haben dort das größte diagnostische Spitalslabor Österreichs und können mit großen Probemengen umgehen", erklärte er. Eine Erweiterung um drei Forschungsgebäude soll die Labordiagnostik weiter verbessern.

Nicht ohne Kritik

Handlungsbedarf sieht Szekeres insbesondere im Bereich der Pflege. Das sei der wachsenden und älter werdenden Bevölkerung geschuldet. "Wir werden das nicht allein durch das Ins-Land-Holen von Pflegekräften aus Osteuropa lösen können. Es wird digitale Lösungsansätze geben müssen. Ich sehe viele Möglichkeiten, Forschung und Innovation in den Gesundheitssektor einzubringen. Etwa wenn Robotik unterstützend im Pflegebereich eingesetzt wird", betonte der Ärztekammer-Chef. Die menschliche Begleitung des technischen Fortschritts müsse aber gewährleistet bleiben, und die Maschine dürfe den Menschen nie ersetzen.

"Wahrlich auch Mängel im Gesundheitssystem" konstatierte Ex-Finanzminister Schelling, der in seiner Funktion als Vorstand von Praevenire, einem Verein zur Optimierung der öffentlichen Gesundheitsversorgung, ein entsprechendes Weißbuch ankündigte. Es sei zwingend notwendig, die Effizienz von Prozessen immer wieder einer Prüfung zu unterziehen, so Schelling.

Auch er sieht in der alternden Bevölkerung, der Digitalisierung und dem medizinischen Fortschritt Handlungsbedarf. Den Beweis dafür liefere die Corona-Krise. Hier hätten sich digitale Instrumente wie das E-Rezept und die E-Krankmeldung als unverzichtbar herausgestellt. "Gerade durch diese Pandemie wird die Digitalisierung massiv voranschreiten, und ich hoffe, dass alle vorherigen Rückschrittsgedanken schnell wieder verschwinden."

Internationale Drehscheibe?

Für Schelling könnte Wien zur internationalen Drehscheibe der Forschung werden. Dafür müsse man sich aber aus der Schrebergartenpolitik zurückziehen. "Wir sollten uns zu einer Wiener Schule der Medizin 2.0 entwickeln", forderte er. Seine Vision: wieder ein österreichischer Nobelpreisträger in den nächsten Jahren.

Die Ansiedlung von produzierenden Betrieben sei in der Diskussion über die Versorgung der Menschen essenziell, betonte der ehemalige ÖVP-Politiker. Boehringer Ingelheim sei ein gutes Beispiel. Die Expansion des Pharmariesen in Wien-Meidling sei nur durch die Forschungsprämie möglich gewesen. Das bedeute Forschung und Produktion für den Weltmarkt. "Dafür braucht es zusätzliche wirtschaftspolitische Instrumente. Denn meiner Erfahrung nach wandern Forscher nicht so schnell wieder ab wie Finanzer."

Zu wenig Diagnostik?

Verbesserungspotenzial sieht Schelling bei der Herstellung von diagnostischen Produkten in Österreich. Wir hätten zwar gute Verfahren und Pharmazeutika, um Erkrankungen zu heilen, im Bereich der Früherkennung hinken wir aber hinterher. Die Lebenserwartung sei zwar hoch, bei der Anzahl der gesunden Lebensjahre liege man aber im letzten Drittel Europas. Es gelte sich zu überlegen, wie wir durch rasche Früherkennung Heilung sicherstellen können. Um diese ambitionierten Ziele zu erreichen, müssten Interessenvertreter über den Tellerrand hinausblicken, anstatt parteipolitisch zu agieren. (Julia Palmai, 9.9.2020)