"Armut und Resignation verdecken Talent", findet der Soziologe und Autor des Buchs "Mythos Bildung", Aladin El-Mafaalani. Im Gastkommentar zeigt er auf, vor welchen altbekannten, neuen und akuten Herausforderungen Bildungsinstitutionen stehen.

Endlich ein Schulkind? Migrantinnen und Migranten können ihre Kinder in der Schule häufig nicht unterstützen.
Foto: APA / Roland Schlager

Bildung ist von großer Bedeutung – für die Gesellschaft und jeden einzelnen Menschen. Sie ist für Kinder, die in Armut aufwachsen, die einzige Chance auf einen respektablen Platz in der Gesellschaft. Und für die Gesellschaft ist Bildung eine zentrale Möglichkeit zu verhindern, dass aus der Armut resignative oder parallelgesellschaftliche Milieus entstehen. Dass solche Milieus vielerorts bereits entstanden sind, ist allgemein bekannt und ein Hinweis darauf, dass da etwas im Hinblick auf die Bildungschancen im Argen liegt. In drei Schritten lässt sich die gegenwärtige Herausforderung ungleicher Chancen differenzieren: Altbekanntes, Neues und Akutes.

Weniger Erfahrungen

Altbekannt ist, dass die Familie und das familiäre Netzwerk eines Kindes von zentraler Bedeutung sind. Intelligenz und Kompetenz entwickeln sich in einem Wechselspiel zwischen natürlichen Anlagen und den Entwicklungsmöglichkeiten, die das Umfeld bietet, das anregend und fördernd ist – oder nicht. Die Bedeutung des Umfelds wird ersichtlich, wenn man sich Kindheiten in Armut genauer anschaut. Diese Kinder verhalten sich in aller Regel sehr klug, nämlich den Rahmenbedingungen entsprechend.

In einem armen Haushalt aufzuwachsen bedeutet häufig nicht nur, weniger Geld zu haben als andere, sondern auch weniger Handlungsoptionen, weniger Erfahrungen und weniger Anerkennung. In dieser Situation ist es hochplausibel, kurzfristig und anwendungsorientiert zu denken sowie Risiken zu vermeiden, was zusammengenommen dazu führt, dass sie seltener Neues ausprobieren und im schlimmsten Falle, nämlich wenn sie eine funktionale Routine zur Bewältigung des Alltags gefunden haben, jeden Tag das Gleiche machen. Das ist in dieser Lebenswirklichkeit ein angemessenes Verhalten, aber für eine Bildungskarriere ungünstig.

Erodierte Strukturen

Neu ist nun, dass sich zusätzlich dazu die innere Haltung der Menschen in bestimmten Milieus verändert. Nicht immer, aber immer häufiger wachsen die Kinder in einem Milieu auf, in dem solidarische Strukturen zunehmend erodieren, das soziale Netzwerk der Familien klein ist und die meisten Erwachsenen kaum noch Hoffnung auf eine bessere Zukunft haben. Das ist ein relativ neues Phänomen. Zusammen mit dem alten führt es dazu, dass sich Kinder wie ein Insolvenzverwalter verhalten, nein: Sie sind der Insolvenzverwalter ihres Alltags.

Nicht neu, aber zunehmend wichtig: Migrantinnen und Migranten kennen zum einen das Schulsystem gar nicht (und wissen häufig nicht, was von ihnen erwartet wird) und können zum anderen ihre Kinder bei vielem nicht unterstützen. Beim Erfolg in der Schule sind Migrantenkinder stärker auf sich gestellt als andere.

Mit alledem sind die Schulen zunehmend überfordert, weil vieles von dem, was sie in vergangenen Jahrzehnten noch wie selbstverständlich voraussetzen konnten, bei einem nennenswerten Teil der Kinder und Familien nicht mehr vorliegt.

Interessen erkennen

Akut sehen wir, dass sich die beschriebenen Zusammenhänge durch die Corona-Krise nochmals verschärfen können. Lange Unterrichtsausfälle können für die benachteiligten Kinder deutlich schwerwiegender sein als für andere – schlecht ist es für alle Kinder und Familien. Deshalb ist es richtig, dass sich zunächst alle Bemühungen auf die Wiederaufnahme des Regelbetriebs an allen Bildungsinstitutionen richten. Sobald es Corona erlaubt, sollten umfassende Bildungsoffensiven gestartet werden, insbesondere in den Bereichen Kindergarten, Volksschulen und Ganztag. Wir alle wissen, dass man eine Sprache, ein Musikinstrument und einen Sport umso besser beherrscht, je früher man damit anfängt. Um Neigungen und Interessen zu erkennen, auch um selbstbestimmt entscheiden zu können, bedarf es umfassender Gelegenheitsstrukturen, die es ermöglichen, sehr vieles auszuprobieren, ganz unabhängig vom Elternhaus. Bildungsinstitutionen müssten Orte sein, in denen für jedes Kind alles erlebbar und erfahrbar wird, was die Gesellschaft zu bieten hat. Und sie müssen in die Lage versetzt werden, weniger vorauszusetzen, nur das zu erwarten, was die Familien auch imstande sind zu erfüllen, und Erwartungen auch transparent zu machen.

Armut und Resignation verdecken Talent. Es muss entdeckt werden. Und um zu entdecken, muss man neue Wege gehen. (Aladin El-Mafaalani, 8.9.2020)