Freddie (links) und Truus Oversteegen erhielten im Jahr 2014 vom niederländischen Premier Mark Rutte mit den Worten "Ihr seid beide Heldinnen" den Mobilisatie-Oorlogskruis.

Foto: Media Centre Ministry of Defence Netherlands

Haarlem – Derzeit dominieren immer öfter Menschen die Schlagzeilen und Berichterstattung, die es nicht wert sind, überhaupt beachtet zu werden. Daher ist die heutige "Tretlager"-Kolumne drei Frauen gewidmet, die ein ehrendes Andenken verdienen und deren Heldentaten nie vergessen werden sollen. Es sind die Schwestern Freddie und Truus Oversteegen sowie ihre Freundin Hannie Schaft. Letztere wurde als "Das Mädchen mit dem roten Haar" 1981 durch den gleichnamigen Kinofilm bekannt. Die beiden Oversteegen-Schwestern erhielten erst sehr spät die ihnen zustehende Anerkennung.

Alles begann im Mai 1940, als die Nazis die Niederlande besetzten. Die Schwestern Freddie und zwei Jahre ältere Truus wuchsen bei ihrer alleinerziehenden, weil seit 1933 geschiedenen Mutter Trijntje in der kleinen Stadt Haarlem auf. Die Mutter war überzeugte Kommunistin, was sich auf ihre beiden Töchter übertrug. Das Nazi-Regime lehnte sie kompromisslos ab. Sie engagierte sich trotz tödlicher Gefahr im Untergrund, verteilte verbotene Druckwerke und versteckte Juden sowie Homosexuelle vor den Nazi-Häschern. Die beiden Töchter sollten ihrem beeindruckenden Beispiel folgen.

"Bleibt immer menschlich!"

Bald wurde der niederländische Widerstand auf die drei Frauen aufmerksam. Frans van der Wiel, Kommandeur bei der kommunistischen Widerstandsgruppe Raad van Verzet (RVV) aus Haarlem, wurde 1941 bei Mutter Trijntje vorstellig und fragte, ob sie ihren beiden Töchtern erlauben würde, im Untergrund aktiv zu werden. Sie willigte unter einer Bedingung ein: "Bleibt immer menschlich!" Ein Versprechen, an das sich die beiden Mädchen selbst in den unmenschlichen Wirren des Nazi-Terrors halten sollten.

Der RVV schulte die Schwestern im Umgang mit Waffen und lehrte sie widerständische Techniken. Aus dem Training wurde bald Ernst. Im Alter von nur 15 Jahren erschoss Freddie ihren ersten Nazi – vom Fahrrad aus. Es war eine Art niederländisches Drive-by-Shooting, auf dem Gepäckträger des mütterlichen Fahrrads sitzend. Während Trijntje das Rad lenkte, holte Freddie die Waffe aus dem Korb und tötete einen Nazi-Offizier zielsicher mit mehreren Schüssen.

Das Notwendige tun

Das Töten fiel ihr keineswegs leicht, wie sie später erzählte. Die Erinnerungen an die Taten verfolgten sie ein Leben lang. Aber sie wusste zugleich, dass sie das Richtige und Notwendige getan hatte. Am vergangenen Sonntag hätte Freddie ihren 95. Geburtstag gefeiert, doch sie verstarb am 5. September 2018. Grund genug, dieser Heldin zu gedenken. Es braucht die Erinnerung an solche Menschen, die bereit sind, gegen Unmenschlichkeit einzustehen, wenn es sein muss mit Gewalt und bis zur letzten Konsequenz.

Als Freddie mit nur 14 Jahren erste Tätigkeiten im Widerstand erledigte – Waffenschmuggel und Diebstahl von Dokumenten, um jüdischen Flüchtlingen zu helfen –, wurde bald klar, dass ihr jugendliches Aussehen sie zur perfekten Agentin machte. Die Nazis schenkten dem vermeintlichen Mäderl kaum Aufmerksamkeit, wodurch sie leicht durch Kontrollen gelangte. Ihr erster größerer Auftrag war, zusammen mit ihrer Schwester ein Warenhaus der NS-Besatzer niederzubrennen. Die Mädchen lenkten die Wachen ab, indem sie mit ihnen flirteten.

Hübsche Frauen lockten Nazis in die Falle

Diese Technik feilten sie weiter aus. Sie lockten Nazi-Kollaborateure sowie NS-Offiziere mit der Aussicht auf ein Schäferstündchen zu Spaziergängen in den Wald. Dort warteten bereits andere Widerstandskämpfer, oder die Mädchen selbst erschossen die nichtsahnenden Nazis. Wie viele NS-Besatzer und deren Günstlinge sie auf diese Weise in die Falle lockten, verrieten die Schwestern zeitlebens nicht. Aber dürften einige gewesen sein.

Im Jahr 1943 kam Hannie Schaft als dritte Frau zur Haarlemer Widerstandsgruppe hinzu. Die Jus-Studentin wurde unter dem Namen "Das Mädchen mit dem roten Haar" bekannt. Den Spitznamen verpassten ihr die Nazis, die sie unerbittlich jagte. Die drei Frauen wurden zum unzertrennlichen Trio. Die NS-Besatzer waren zu borniert und dumm, als dass sie es für möglich hielten, von drei jungen Frauen attackiert zu werden. Und so konnten Freddie, Truus und Hannie erfolgreich weiterarbeiten.

Hauptziel war, jüdische Kinder retten

Ihr erklärtes Ziel war aber nie, Nazis zu töten. Das sahen sie vielmehr als notwendiges Übel. Ihr Hauptaugenmerk galt stets der Rettung jüdischer Kinder, mit denen sie teils während alliierter Bombardements durch Amsterdam und Haarlem flohen, um sichere Verstecke zu finden. Nicht immer gelang es ihnen, die Kinder vor ihren Häschern zu retten. Diese Misserfolge nagten sehr an den Frauen. Dennoch gaben sie nicht auf.

Dass sie trotz all der Gräuel nie ihre Menschlichkeit verloren, beweist jene Anekdote, als Freddie, Truus und Hannie erstmals einen RVV-Auftrag ablehnten. Die drei sollten die Kinder des damaligen NS-Statthalters in den Niederlanden, des verurteilten Kriegsverbrechers Arthur Seyß-Inquart, entführen. Man wollte sie gegen gefangene Widerstandskämpfer eintauschen. Die drei Frauen lehnten ab. "Widerstandskämpfer töten keine Kinder", erklärte Freddie die Entscheidung später. Denn die Frauen befürchteten, dass die Kinder getötet würden, sollte der Gefangenenaustausch nicht gelingen.

Drive-by-Shooting auf Holländisch

Ihre letzte Aktion führten die drei Frauen am 15. März 1945 aus. Es war wieder ein niederländisches Drive-by-Shooting. Auf ihren Fahrrädern näherten sich die drei einem bekannten Nazi-Kollaborateur. Obwohl dieser die Gefahr erkannte und noch versuchte, sich mit Waffengewalt zu wehren, waren die Frauen schneller und zielten besser. Sie töteten den Mann mit mehreren Schüssen. Indem sie sich in einem nahen Café als betrunkene Gäste ausgaben, entkamen sie den rasch herbeigeeilten NS-Schergen.

Während die beiden Schwestern Freddie und Truus den Krieg überlebten, wurde Hannie am 21. März, als sie auf einem Fahrrad unterwegs war, um verbotene Schriften zu verteilen, gefasst. Die Nazis folterten die damals 24 Jahre alte Frau tagelang und richteten sie am 17. April 1945, nur 18 Tage vor der Befreiung der Niederlande, hin. Für Freddie, die sich als Seelenverwandte von Hannie bezeichnete, ein Verlust, den sie zeitlebens betrauerte. Sie legte stets rote Rosen auf Hannies Grab nieder.

Vergessene Heldinnen

Zwar erhielt Hannie Schaft Ende 1945 ein Ehrengrab, im Jahr darauf wurde ihr posthum das Wilhelmina-Widerstandskreuz verliehen und sogar die Medal of Freedom der USA. Doch aufgrund des blinden Antikommunismus des Westens in der Nachkriegszeit gerieten die Heldinnentaten der drei Frauen bald in Vergessenheit. 1951 verhinderte die niederländische Polizei mit Gewalt eine Gedenkfeier an Hannie Schafts Grab.

Wegen ihres Bekenntnisses zum Kommunismus wurden auch Freddie und Truus ignoriert. Das schmerzte sie sehr, wie es der "Spiegel" in einem Artikel über sie beschrieben hat: "Freddie litt sehr unter dieser Ignoranz und konnte sich schwer mit dem Land identifizieren, für dessen Befreiung sie kämpfte und das nun frühere Nazi-Kollaborateure in höchste Staatsämter beförderte."

Erst als 1981 der Film "Het meisje met het rode haar" ("Das Mädchen mit dem roten Haar"), basierend auf dem gleichnamigen Roman des Schriftstellers Theun de Vries, in die Kinos kam, erhielten auch die beiden Schwestern plötzlich mehr Beachtung. Es sollte aber bis zum Jahr 2014 dauern, bis ihnen der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte das Mobilisatie-Oorlogskruis – eine hohe Auszeichnung für militärische Verdienste – verlieh. Er sagte zu diesem Anlass: "Ihr seid beide Heldinnen, besser kann man es nicht ausdrücken."

Rutte hatte recht, die beiden waren echte Heldinnen. Truus, die nach dem Krieg als Malerin und Bildhauerin tätig war, verarbeitete viele ihrer Erlebnisse in ihrer Kunst. Sie verstarb am 18. Juni 2016. Zwei Jahre vor ihrem Tod willigte Freddie, die seit ihrer Hochzeit den Doppelnamen Dekker-Oversteegen führte, ein, an einem Dokumentarfilmprojekt unter dem Titel "Twee zussen in verzet" ("Zwei Schwestern im Widerstand") mitzuarbeiten, das die Geschichte der beiden Frauen erzählt. (Steffen Arora, 9.9.2020)