Hochzeiten auf Kuhwiesen sind gerade sehr in Mode. Man lässt die Tiere im Stall, die Gäste verteilt man, Corona-bedingt, über die Landschaft. Unlängst war ich selbst auf so einem Event. Cousin Rudi und der Automechaniker seines Vertrauens hauchten Ja. Wir zogen vor Rührung die Taschentücher.

Rudi hatte schon in der Volksschule lieber Prinzen als Prinzessinnen gemalt. Für seinen Traummann hingegen blieb das Persönliche lange ein Graubereich – ein Umstand, der eine alte Schulfreundin nach der Zeremonie zu der Bemerkung verleitete: "Ich hätte dem Rudi einen einfacheren Partner gewünscht. Zwei Kinder von zwei verschiedenen Exfrauen, das scheint mir eine komplizierte Ausgangssituation zu sein."

Mehr brauchte die Spielverderberin nicht. "Meine Güte, denk doch mal nach", fuhr ihr Rudis Mutter über den Mund. "Welcher Mann oder welche Frau über 35 ist denn bitte keine Situation?"

Mayday, Mayday

Wo Rudis Mutter recht hat, hat sie recht. Man kennt den Warnruf aus US-Serien wie Navy CIS: "Officer, we’ve got a situation here." – Will heißen: Vorsicht Amokläufer, die Lage ist komplex.

Situationselastisch muss man auch auf das echte Leben reagieren, ganz ohne Serienkiller. Am laufenden Band bekommt man es mit den Herausforderungen der Realität zu tun, da genügt schon ein ganz normales Objekt der Begierde: Essstörung, Privatkonkurs, Höllenscheidung, dunkles Familiengeheimnis – sobald man die erste Runde Erwachsensein hinter sich hat, reist der Mensch mit großem Gepäck. Übergepäck, das man auf einem Romantikflug mit einberechnen könnte – wenn, ja, wenn sich die eigene Vorstellungskraft mit der Anzahl der Koffer mitentwickelt hätte. Aber genau hier beginnt das Problem.

Mittels "Vinyl-Prinzip" soll's auch mit dem Automechaniker funktionieren.
Foto: imago images/Shotshop

Für immer siebzehn

Leider wächst das Gefühlsleben mit der Anzahl der Jahresringe nicht mit. Innen, da ist man immer noch siebzehn, und die Träume sind es auch: Zeit ohne Ende, nächtliches Nacktschwimmen, unbelastete Küsse im Heu – so stellt man sich die ersten Jahre der Liebe vor. Der Rest des gemeinsamen Lebens verschmilzt im Kopf zu einem pinkfarbenen Sonnenuntergang.

Doch das silbrig-funkelnde Einhorn ist gemein und verschwindet: Die erste Festanstellung, die erste Trennung, die erste "letzte Zahlungsaufforderung" – die französische Teenie-Romanze wird jetzt von der bösen Wirklichkeit produziert. Man tanzt plötzlich nicht mehr zu Dreams are my Reality aus La Boum, sondern zu Tschaikowskis Pathétique.

Gut, das eigene Gefühlsleben und die Dating-Realität entwickeln sich mit den Jahren diametral auseinander. Jeder Mensch ist eine Situation, mit Gebrauchsspuren ist zu rechnen. Aber im Gegensatz zu all den Ratschlägen von Psychologen, sich dem ganzen Sondermüll zu stellen, empfehle ich in der romantischen Liebe das Vinyl-Prinzip: Man macht es wie bei einem einer guten alten Schallplatte – das Rauschen und die Kratzspuren überhört man einfach. So könnte es klappen, nicht nur mit dem Automechaniker. (Ela Angerer, RONDO, 2.11.2021)