STANDARD: Warum sind Kopfhörer heute ein Statussymbol?

Martin: Das hat vermutlich damit zu tun, dass man heute Musik am Mobilgerät überall konsumieren kann. Es ist normal, dass ich die Musik auf meinem Handy immer bei mir habe. Für mich war als Teenager in den 1980ern der Sony-Walkman noch die einzige Möglichkeit, Musik mobil zu hören. Ich erinnere mich auch noch gut an meinen ersten iPod. Weil sich die Qualität der Smartphones immer weiter verbessert hat, entstand das Bedürfnis, das Hörerlebnis zu optimieren.

STANDARD: Ist der Kopfhörer die Rolex der Millennials?

Martin: Kopfhörer sind tatsächlich zu einer Art Schmuckstück geworden. Sie sind vor allem für die Generation zwischen mir und meinen zehn- und zwölfjährigen Kindern das Nonplusultra. Für viele junge Menschen ist es wichtig, das richtige Smartphone zu haben und die richtigen Hörer zu tragen. Die Prioritäten der Millennials haben sich verschoben. Wenn ich jüngeren Menschen Statusunterschiede anhand von Autos erkläre, können viele damit nichts mehr anfangen: Sie kennen die Automodelle nicht. Für sie sind Smartphones Prestigeobjekte. Da geht’s darum, welches Modell von Samsung oder Apple man hat. Ich kann da mit meinem alten iPhone nicht mitreden. Die Generation meiner Kinder ist wieder ganz anders drauf: Sie nutzt Kopfhörer nur fürs Gaming.

STANDARD: Wie haben die Kopfhörer unser Hörverhalten verändert?

Martin: Es ist etwas Spannendes passiert. Wenn wir heute rausgehen, wollen wir nicht mehr die natürliche Geräuschkulisse unserer Umgebung wahrnehmen. Mit Musik in den Ohren gestalten wir unsere eigene Soundlandschaft. Die Lautsprecher zu Hause und die Kopfhörer sind jedenfalls nicht nur zur Unterhaltung da, sie dienen dazu, unsere Umwelt zu kontrollieren.

STANDARD: Das Leben wird zum Film …

Martin: Genau, wenn man im Auto Bach hört, fährt man anders als zu AC/DC.

STANDARD: Warum braucht man Kopfhörer, die Geräusche unterdrücken?

Martin: Mit Kopfhörern mit Noise-Cancelling schaue ich im Flugzeug Filme, da sind sie für mich unabdingbar. Im Großraumbüro benutze ich sie, um konzentrierter arbeiten zu können. Es sieht zwar so aus, als würde ich Musik hören, das tue ich in Wahrheit aber nicht.

H95 heißt der neue Hörer von B & O.
Foto: Bang & Olufsen

STANDARD: Was macht das mit uns, wenn wir ständig mit Kopfhörern unterwegs sind?

Martin: Wenn ich mir den Soundtrack für meine Umgebung selbst zusammenstellen kann, dann führt das nicht nur zur Individualisierung, sondern auch zu dem Gefühl, dass der Rest der Welt nicht relevant für mich ist. Wir alle leben heute mehr denn je in unseren Bubbles: Der Facebook-Algorithmus beispielsweise zeigt einen auf uns zugeschnittenen Ausschnitt von der Welt. Ich fürchte, dass ich jetzt wie ein Dinosaurier klinge: Ich selbst bin nicht in den sozialen Netzwerken aktiv, beobachte aber, dass viele Leute sich selbst in ein Brand verwandeln wollen – und nur die vermeintlich guten Seiten von sich zeigen. Das finde ich problematisch.

STANDARD: Wir werden überall von Musik berieselt. Was hat das verändert?

Martin: Das verändert natürlich unsere Raumerfahrung. Erinnern Sie sich an die erste Szene des Films "The Big Lebowski" von den Coen-Brüdern? Da steht der Protagonist im Bademantel im Supermarkt und kauft Milch. Dazu hören wir Kaufhausmusik – genau das macht die Szene so real. Wir kennen diese Situation zu gut. Unsere Umgebung wird heute nicht nur für Augen und Nase, sondern auch für unsere Ohren gestaltet.

STANDARD: Und im besten Fall passt alles zusammen.

Martin: Es wäre ja verrückt, in einem japanischen Sushi-Restaurant Heavy Metal von Slipknot zu hören. Dass man sich hinsetzt und ganz bewusst Musik hört, egal, ob das jetzt Britney Spears oder die Berliner Philharmoniker sind, ist eher die Ausnahme. Normalerweise kommt man nach der Arbeit nach Hause, dreht die Musik an und bereitet parallel das Abendessen vor. Oder man nimmt sie eben nebenbei im Supermarkt wahr.

STANDARD: Schärft ständiges Musikhören das Gehör?

Martin: Man trainiert zumindest die Fähigkeit, Dinge zu unterscheiden. Es ist wie beim Besuch eines Weinseminars oder eines Kochkurses: Je öfter man etwas tut, desto mehr lernt man. Normalerweise dauert es für ungeübte Ohren recht lange, bis man unterschiedliche Klänge benennen kann. Aber wenn man sich zum Beispiel in Wagners "Ring des Nibelungen" hineinarbeitet, dann nimmt man irgendwann die Oboe oder eine bestimmte Stimme anders wahr. Man hört nicht mehr einfach nur "schöne Musik", sondern kann einzelne Komponenten von Klängen auseinanderhalten. Ich glaube aber nicht, dass man danach besser hört.

"Es gibt im Großen und Ganzen zwei Aufnahmephilosophien.", so Martin.
Foto: bang & olufsen

STANDARD: Was muss man für einen guten Kopfhörer hinlegen?

Martin: Diese Frage kann ich nicht beantworten, um Preise kümmere ich mich nicht. Eines ist aber sicher: Ein Kopfhörer muss kein Vermögen kosten. Es sind viele teure Kopfhörer auf dem Markt, die nicht besonders gut sind: Sie werden einfach vom richtigen Popstar verkauft oder sind in einer angesagten Farbe zu haben. Wenn der Klang nicht überzeugt, muss nicht der Kopfhörer schuld sein. Erst sollte man die wahre Schwachstelle finden. In den meisten Fällen mangelt es den Soundfiles an Qualität.

STANDARD: In den 1980er-Jahren stellte man sich wuchtige, große Anlagen ins Wohnzimmer. Was beschäftigt Sie als Sounddesigner heute?

Martin: Ob der Klang jetzt aus einem kleinen oder großen Lautsprecher kommt, ist zweitrangig. Mich beschäftigt mehr die Vereinbarkeit der vielen Audiokanäle. Früher gab es mit Vinyl, Kassetten, CDs, DVDs eine ziemlich überschaubare Anzahl an Distributionskanälen. Heute können wir Audio auf unzähligen Wegen konsumieren: Man schaut sich eine Serie auf dem iPhone an, hat einen Google-Assistenten, vergangenes Jahr war Netflix noch gut genug, mittlerweile gibt’s auch den Streamingdienst Disney+. Es ist schwer, dabei den Überblick zu behalten, der Input steigt täglich, das merke ich bei meiner Arbeit: Ich habe schon Streamingdienste aus anderen Ländern getestet, von denen ich zuvor noch nie gehört hatte.

STANDARD: Warum schwören heute wieder so viele junge Menschen auf Vinyl?

Martin: Erst einmal vorweg: Nicht das Material Vinyl macht die Aufnahme speziell. Ich glaube, es geht bei dem Hype ums Vinyl nicht nur um den Klang, sondern auch um die Art und Weise, wie man Musik hört. Vinyl ist etwas für aufmerksame Hörer, das Musikerlebnis folgt einem Ritual: Man lässt die Nadel auf die Platte und hört sich einen Song vom Anfang bis zum Ende oder vielleicht sogar eine Seite eines Albums an. Das tut man zum Beispiel, wenn man Freunde zum Dinner einlädt, die Musik also als Hintergrundgeräusch funktionieren soll. Was viele vergessen: Vinyl hat auch seine Nachteile. Meine Kinder zum Beispiel hören sich auf Youtube nur die ersten Sekunden eines Songs an, dann den nächsten und den übernächsten. Das ist bei Vinyl nicht so leicht möglich.

STANDARD: Eine Schallplatte muss umgedreht werden!

Martin: Genau, es kommt zu einer Unterbrechung. Wenn ich als Musiker Aufnahmen veröffentliche und die auf einem Streaming-Service, auf Vinyl und auf CD rausgehen sollen, dann müssen diese außerdem auf die drei Kanäle angepasst sein. Das ist ähnlich wie bei Filmen. Wenn ich "Star Wars" einmal im Kino und ein andermal zu Hause am Fernseher schaue, dann sind die Farben auf die jeweilige Bildschirmsituation abgestimmt. CD und Vinyl unterscheiden sich also nicht nur hinsichtlich der Materialität des Tonträgers, sondern auch in dem, was auf der silbernen oder der schwarzen Scheibe draufgespielt wurde.

STANDARD: Kann ein Hörerlebnis heute authentisch sein?

Martin: Was heißt schon authentisch? Es gibt im Großen und Ganzen zwei Aufnahmephilosophien. Erstens: Die Aufnahme der Berliner Philharmoniker klingt so, als säßen die Musiker direkt bei mir im Wohnzimmer. Und die andere, als sei man bei der Aufnahme dabei. Dann wiederum lautet die Frage: Wurde sie im Berliner Konzerthaus oder in einem Tonstudio aufgenommen? Es gibt einfach nicht die eine Referenzgröße. In jedem Fall soll der Hörer schlussendlich nicht sagen: Das sind tolle Lautsprecher oder Kopfhörer, dafür aber: Ich liebe Mozart! Ich liebe Britney Spears, ich liebe Dolly Parton! (Anne Feldkamp, RONDO, 15.9.2020)

Die Reise nach Struer erfolgte auf Einladung von Bang & Olufsen.