Als Anlass für seltsame Outfits braucht die US-Band The Flaming Lips eigentlich gar kein Corona, es schadet aber auch nicht.

George Salisbury

Bei seiner Midlife-Crisis war das Publikum live dabei. Die diesbezügliche Antiklimax während der Sinnkrise war eine Kollaboration mit der Pop-Hysterikerin Miley Cyrus. Da wusste man, Wayne Coyne geht’s nicht gut, da mochte er noch so breit grinsen, aber das tut der Teufel auch, wenn er einem in den Hintern beißt.

Wayne Coyne ist Chef der US-Band The Flaming Lips. Die seit den 1980ern bestehende Gruppe zählt zu den herausragenden Alternative-Bands der letzten Dekaden. Sympathische Wirrköpfe aus Oklahoma, deren drogenkoketter Space-Rock einige epochemachende Werke zeitigte. Zu nennen wäre da an erster Stelle ihr 1999 entstandenes Opus magnum The Soft Bulletin.

Das öffnete ihnen zugleich die Tür in den Mainstream, in dem sie nach ihren eigenen Regeln bis heute einer erfolgreichen Karriere nachgehen. Diese wirkt wie ein nie endender Kindergeburtstag. Konfettikanonen gehören ebenso zum Live-Equipment wie eine durchsichtige Kunststoffkugel, in der Wayne Coyne bei Festivals über den Köpfen des Publikums spazieren geht: ein Hamster auf zwei Beinen mit Struwwelpeter-Frisur.

Doch die letzten Jahre und Werke waren von einer gewissen sinistren Ziellosigkeit geprägt, der Pop-Appeal der Resultate fiel deshalb bescheiden aus. Zwar ist Coyne keiner, der an einen höheren Zweck im Leben glaubt, keiner, der aus einer konfessionellen Überzeugung einen bestimmten Weg geht.

Doch wo aus dem ziellosen Treiben früher prächtige psychedelische Rockmusik entstanden war, durchgeknallt und aberwitzig, überzeugt von der magischen Kraft des Augenblicks, herrschte plötzlich ein redundanter Pessimismus. Doch das scheint nun überwunden zu sein. Ihr am Freitag erscheinendes Album American Head ist ihre beste Arbeit seit vielen Jahren.

Graue Strähnen

Die Gründe dafür sind denkbar profan: Wayne Coyne hat sich scheiden lassen, sich neu verliebt, verlobt, verheiratet und wurde im Vorjahr mit 58 Jahren erstmals Vater. Die grauen Strähnen in seiner Mähne sind seit damals zwar nicht weniger geworden, aber was soll’s?

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Seither geht sein Instagram-Account über mit Einträgen zu Bubi und seinen Vaterfreuden – begleitet von roten Herzen, Luftballons und Regenbögen. Die kindliche Perspektive, aus der er in hoher Kopfstimme seine Betrachtungen formulierte, manifestierten sich also auf wunderbare Weise in der Realität, Kindergeburtstag inklusive.

"Fearless Freaks"

Auf American Head wirkt die Vaterrolle nun auf eine nostalgische Art und Weise nach. Das Album dient Coyne als eine Art Rückblick auf die eigene Jugend. An eine Zeit in den 1970ern, als er im US-Hinterland den gängigen Zerstreuungen jener Tage nachging und er und seine Geschwister sich ob ihrer ruchlosen Art "Fearless Freaks" nannten: furchtlose Ausgeburten.

Damals kollidierten Drogenerfahrungen mit der Fantasie des kleinen Wayne. Jugendamt und Fürsorge geraten da jetzt noch in Alarmzustand, zu Recht, doch nährte sich Coynes zukünftige Karriere genau an diesen Erfahrungen – bis heute, wie sich zeigt.

Über dem Alltag

Nur über Umwege lassen sich in die Musik der Flaming Lips so etwas wie Botschaften lesen. Pensionssicherung, Altersdemenz oder die Klimakrise mögen die Privatperson und den Vater Coyne beschäftigen, dass er seine Kunst damit bekleckert, käme ihm nicht in den Sinn.

Für ihn ist Kunst etwas, das über der Gewöhnlichkeit des Alltags steht. In ihr versucht er, die Faszination an der Fantasie festzuhalten, wenn er mit nahe am Winseln angesiedeltem Vortrag über die Dinosaurier da drüben auf dem Hügel singt: Dinosaurs On The Mountain. Das Lied beginnt dann auch mit einer Melodie, die von einem Kinderspielzeug stammen könnte.

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Andere Titel behandeln weniger jugendfreie Themen und heißen At The Movies On Quaaludes oder Mother I’ve Taken LSD oder When We Die When We’re High. Was man halt als stolze Jugenderinnerungen durchs Leben trägt. Vor allem ein Song sticht daraus hervor: Mother Please Don’t Be Sad behandelt ein Erlebnis aus dem Jahre 1977.

Wenn ich jetzt hier sterbe ...

Damals war Coyne ein pickeliger Teenager und verdingte sich gerade im ersten von insgesamt 13 Jahren als Frittenkoch in einer Fastfood-Bude. Eines Tages wurde diese von bewaffneten Gangstern überfallen, und der 16-Jährige lag mit dem Gesicht am Boden in der Küche und erwartete sein Ende. Überwältigt von der Willkür des Lebens, wünschte er sich bloß, dass seine Mutter daran nicht zerbrechen sollte, wenn er jetzt hier sterbe.

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Das Lied wächst zu einem von Streichern getragenen Opus über die Vergänglichkeit, die hier öfter auftaucht. Doch immer ohne Urteil, ohne moralisierenden Zeigefinger. Der Absurdität des Lebens wird alles demütig untergeordnet.

Bewaffnete Einhörner

13 durchgängig schöne Songs sind so entstanden, und wenn man etwas bemängeln möchte, dann nur, dass die Band kaum je das Tempo erhöht. Die dominierende Form ist die Ballade, oft semiakustisch, selten in den Irrsinn früherer Werke kippend. Doch dem sind Coyne und Co zuletzt ohnehin zu ausgiebig nachgehangen.

American Head ist eine vergleichsweise konzentrierte und fast konventionelle Arbeit. Doch es sind immer noch die Flaming Lips: Mit bis an die Zähne bewaffneten Einhörnern ist jederzeit zu rechnen. (Karl Fluch, 10.9.2020)