Große Teile der Infrastruktur im Lager Moria auf Lesbos brannten nieder. Denn das Feuer breitete sich durch extrem starke Winde und die Hitze schnell aus. Auch in anderen Teilen Griechenlands gibt es Brände.

Foto: Panagiotis Balaskas via www.imago-images.de

Mytilini/Athen – Die meisten rannten mitten in der Nacht ohne ihr Hab und Gut die umliegenden Olivenhaine hinauf, um sich vor den Flammen zu retten. Es war kurz vor Mitternacht, als im Flüchtlingslager Moria auf der Insel Lesbos ein Brand ausbrach, der sich schnell ausbreitete, weil starke Winde die Flammen weitertrugen. Am Mittwochabend ist dann erneut ein Feuer ausgebrochen. Die Flammen loderten laut einem AFP-Fotografen in einem Teil des Lagers, das von der vorangegangen Brandkatastrophe nur wenig betroffen war. Erneut kam es zu Chaos: Flüchtlinge rannten aus dem Lager, während ihre Zelte verbrannten.

Frage: Was waren die Umstände rund um den Brand im Lager Moria?

Antwort: Die griechischen Behörden nehmen an, dass das Feuer von einigen Migranten aus Protest entfacht wurde. Auch in der Vergangenheit kam das immer wieder vor. Anfang September wurde im Lager der erste Fall einer Covid-19-Infektion registriert, mittlerweile wurden 35 Personen positiv getestet und umfassende Quarantänemaßnahmen erlassen. Die Leute durften seit dem 2. September für zwei Wochen nicht mehr aus dem Lager raus, die Polizei kontrollierte die Eingänge. Manche wurden in Quarantäne geschickt. Doch am Dienstag weigerten sich einige, in Quarantänebereiche zu übersiedeln. Das wiederum machte anderen Leuten Angst. Es kam zu tätlichen Auseinandersetzungen zwischen Bewohnern des Camps. Denn einige Leute versuchten, die Infizierten aus dem Lager zu werfen. Aus Sorge, ebenfalls infiziert zu werden, verließen manche zudem in der Nacht das Camp. Außerdem verbreitete sich das Gerücht, dass die griechische Regierung, um weitere Covid-19-Fälle zu vermeiden, alle Bewohner in geschlossene Camps bringen wolle – was gar nicht der Fall war.

Frage: Welche Auswirkungen hat der Brand?

Antwort: Fast das gesamte Lager, in dem zurzeit etwa 12.700 Menschen leben, wurden von den Flammen zerstört – sowohl die Container im Zentrum als auch die selbstgebauten Zelte rundherum. Nur einige Verwaltungsgebäude blieben stehen. Bisher gibt es keine Hinweise darauf, dass Menschen bei den Bränden ums Leben kamen. Die Behörden beschlossen bereits vor der Katastrophe, dass Asylwerber die Inseln nicht mehr verlassen dürfen, um eine Weiterschleppung des Virus zu verhindern. Aufgrund der chaotischen Umstände ist es nun aber viel schwieriger geworden, jene Leute in Quarantäne zu bringen, die möglicherweise infektiös sind, weil dazu Massentestungen notwendig wären. Vergangene Woche wurden 2.000 Menschen in Moria getestet.

Grafik: APA

Frage: Welche Maßnahmen hat die griechische Regierung nun ergriffen?

Antwort: Athen hat für vier Monate den Ausnahmezustand für die Insel Lesbos ausgerufen, um Katastrophenschutzmaßnahmen zu bündeln. Zunächst geht es darum, möglichst schnell Unterkünfte zu schaffen. Für die 3500 Menschen, die in Containern untergebracht waren, werden nun Zeltlager errichtet. Die anderen werden sich wohl neue Zelte bauen. Es handelt sich um einfache Holzkonstruktionen mit Plastikplanen, die etwa 100 Euro kosten. Gut 400 unbegleitete Minderjährige seien nach Behördenangaben in Sicherheit gebracht worden und sollen bald zum Festland gebracht werden. Die EU-Kommission sagte zu, den unverzüglichen Transfer der verbleibenden 400 unbegleiteten Kinder und Jugendlichen auf das griechische Festland und die dortige Unterbringung zu finanzieren. Auf die Insel wurden zusätzliche Polizeikräfte entsandt. Bereits in der Nacht hatte die Polizei Barrikaden errichtet, um zu verhindern, dass die Flüchtlinge und Migranten bis in die Hafenstadt Mytilini gelangen. Denn dort fürchtet man die Ausbreitung des Virus. Bürgermeister Stratis Kytelis meinte, dass die Migranten auf Schiffen untergebracht werden könnten, um die Pandemie einzudämmen. Die Sicherheitslage ist durch die Brände derart außer Kontrolle geraten, dass 200 Schubhäftlinge laut Polizei freigelassen wurden.

Frage: Wie ist zurzeit der Migrationsdruck?

Antwort: Vergleichsweise gering. Seit Beginn der Covid-19-Pandemie kommen kaum mehr Flüchtlinge und Migranten aus der Türkei nach Griechenland. Die griechische Regierung hat zudem die Grenzschutzmaßnahmen – unter anderem mit Booten – verstärkt. Vergangene Woche erreichten insgesamt nur 26 Personen die Ägäischen Inseln, die Woche zuvor waren es 163 Leute. Insgesamt leben noch 27.000 Asylwerber auf den Ägäischen Inseln, davon sind 47 Prozent aus Afghanistan, 19 Prozent aus Syrien und sechs Prozent aus dem Kongo. In den letzten Wochen und Monaten wurden tausende Asylwerber aufs Festland gebracht.

Frage: Gibt es in Österreich die Bereitschaft, Flüchtlinge aus Moria aufzunehmen?

Antwort: Bei einzelnen Gemeinden ja, in der Bundesregierung nicht. Die ÖVP ist strikt gegen die Aufnahme von Flüchtlingen aus Griechenland, auch keine Kinder, auch keine begrenzte Zahl von nur hundert, wie vielfach gefordert wurde. Das bekräftigten Innenminister Karl Nehammer und Außenminister Alexander Schallenberg am Mittwoch. Man wolle Griechenland aber vor Ort unterstützen. Bundeskanzler Sebastian Kurz hatte zuletzt in Interviews mit internationalen Medien sein Konzept der "flexiblen Solidarität" verteidigt. "Jeder soll dort einen Beitrag leisten, wo er kann." Er halte es für unrealistisch, "Staaten zur Aufnahme von Flüchtlingen zu zwingen". Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) verteidigte diese Linie auch Mittwochabend in der ZiB 2: Ja, man habe eine Notlage, ja die Bilder aus dem Lager seien erschreckend und ja, Österreich werde helfen, so Schallenberg. Etwa mit einer Million Euro aus dem Auslandskatastrophenfonds, mit Decken oder Zelten. Man solle sich aber "davor hüten, in die alte Debatte zurückzufallen", wie man sie bereits 2015 gehabt habe. Schallenberg warnte vor einem "Pull-Effekt", wonach nach einer europäischen Verteilung der Flüchtlinge immer mehr Menschen nachkommen würden: "Wir dürfen nicht Signale ausschicken, die eine Kettenreaktion auslösen." Die EU-Kommission werde Ende September Lösungsvorschläge für die Krise vorlegen, so der Außenminister.

Frage: Wie sieht es in anderen Ländern aus?

Antwort: Auch andere Staaten, etwa die Niederlande, haben bereits klargestellt, keine Flüchtlinge aufnehmen zu wollen. Deutschlands Entwicklungsminister Gerd Müller hat hingegen gefordert, 2.000 Migranten aufzunehmen. Deutschland solle mit einem entsprechenden "Zeichen der Humanität" vorangehen, sagte der CSU-Politiker am Mittwochabend in der ARD. "Ich persönlich bin der Meinung, dass wir die Angebote der deutschen Länder annehmen sollten." Bisher hat die deutsche Bundesregierung aus konservativen Unionsparteien (CDU/CSU) und Sozialdemokraten (SPD) eine solche Position vermieden und lediglich davon gesprochen, dass Deutschland Griechenland helfen werde.

Frage: Wie verhält sich die Stadt Wien dazu?

Antwort: Im Wiener Landtag gibt es einen gemeinsamen Beschluss von SPÖ, Grünen und Neos, hundert Flüchtlinge aufzunehmen. Die Gemeinde ist dabei allerdings auf die Bundesregierung angewiesen. Finanzminister Gernot Blümel, auch Spitzenkandidat der ÖVP in Wien, lehnt eine Aufnahme von Flüchtlingen strikt ab. Das Migrationsproblem lasse sich nicht dadurch lösen, "dass wir jetzt einige von Griechenland umverteilen". Blümel sprach von einer "Mitte-rechts-Politik mit Anstand".

Frage: Was ist die Position der Grünen? Agieren sie auf Bundesebene anders als in Wien in der Koalition mit der SPÖ?

Antwort: Die Grünen drängen die ÖVP seit längerem vehement zur Aufnahme von Flüchtlingen – bis jetzt ohne Erfolg. Einen offenen Konflikt in der Koalition versuchen die Grünen zu vermeiden. Die Abgeordnete Faika El-Nagashi machte am Mittwoch im Gespräch mit dem STANDARD aber noch einmal Druck, sie fordert explizit die Aufnahme von Flüchtlingen und verwies auf die Bereitschaft von Wien und anderen Gemeinden. Die ÖVP solle sich nicht aus politischem Kalkül oder ideologischer Verbrämtheit dagegenstellen, das sei unwürdig. Der grüne Europaabgeordnete Thomas Waitz forderte die ÖVP auf, "ihre Blockade aufgeben, statt sich täglich mehr der FPÖ anzunähern". Umweltministerin Leonore Gewessler erklärte am Mittwoch, dass die Grünen einmal mehr das Gespräch mit der ÖVP suchen würden. (Adelheid Wölfl, Michael Völker, 9.9.2020)