Boris Johnson setzt einmal mehr auf Provokation: Beim letzten Mal, als er kurzerhand das Parlament auflöste und damit die Verfassung brach, wurde er von den Wählern dafür belohnt.

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Premierminister Boris Johnson treibt seine Pläne voran, das Austrittsabkommen mit der EU zu untergraben. Die britische Regierung veröffentlichte am Mittwoch die Internal Market Bill, einen Gesetzesentwurf über die Regelungen für den vier Nationen umfassenden Binnenmarkt innerhalb des Vereinigten Königreichs. Dieser Entwurf sieht vor, dass Teile des Austrittsabkommens "unanwendbar" gemacht werden, soll heißen: Die Gültigkeit des erst in diesem Jänner vom Unterhaus ratifizierten Scheidungsvertrags wird in bestimmten Bereichen annulliert. Betroffen ist das sogenannte Nordirland-Protokoll des Scheidungsvertrags, das regelt, wie die nordirische Provinz Teil des EU-Binnenmarkts bleiben kann.

Wer vertraut den Briten noch?

Gefragt, ob der Gesetzesentwurf eine Verletzung des Völkerrechts darstellen würde, hat Nordirlandminister Brandon Lewis am Dienstag im Unterhaus ganz unverblümt geantwortet: "Ja, dies bricht internationales Recht." Vor entsetzten Abgeordneten, auch innerhalb der Regierungsfraktion, führte Lewis aus, dass dieser Vertragsbruch nur "in einer sehr spezifischen und begrenzten Weise" geschehe.

Freilich ließe sich das von jedem Gesetzesverstoß sagen. Pacta sunt servanda, lautet ein Grundsatz des Völkerrechts: Verträge sind einzuhalten. Die frühere Premierministerin Theresa May brachte es auf den Punkt, als sie im Unterhaus fragte: Wie kann Großbritannien noch vertraut werden, dass es die legalen Verpflichtungen einhält, die es un terzeichnet?

Lord Kerr, ehemaliger britischer Botschafter in Washington, kommentierte beißend: "Verträge zu zerreißen ist, was Schurkenstaaten machen." In Großbritannien und in Brüssel fragt man sich jetzt, ob Boris Johnson das Königreich tatsächlich auf diesen Kurs setzen will.

Noch ist die Internal Market Bill nur ein Entwurf und kein Gesetz – und wird es vielleicht auch nicht werden, wenn sich genug Konservative in der Regierungsfraktion dagegenstemmen. Beobachter halten es für möglich, dass es der britischen Regierung nicht um einen Politikwechsel, sondern um ein Posieren geht: Man will so hart wie möglich aussehen und rasselt mit dem Säbel.

Nicht umfangreich, aber ...

In der Sache sind die geplanten Änderungen nicht sehr umfangreich. Der Gesetzesentwurf will die Vorschriften des Austrittsabkommens in zwei Bereichen aussetzen. Man will verhindern, dass nordirische Unternehmen sogenannte summarische Ausgangsanmeldungen für Waren erstellen müssen, die von der irischen Insel nach Großbritannien gehen. Außerdem stipuliert das Austrittsabkommen, dass Großbritannien die EU darüber informieren muss, welche Staatshilfen man für Unternehmen bereitstellen will, die den nordirischen Warenmarkt betreffen könnten. Diese Auskunftspflicht soll stark eingeschränkt werden. Freilich ist gerade das Thema Staatshilfe ein Knackpunkt bei den laufenden Verhandlungen. Die EU will Garantien, die London bisher verweigert, dass Großbritannien nicht durch seine Subventionspolitik den Markt verzerren wird. Ein annoncierter Vertragsbruch kann da nur zu weiterem Vertrauensverlust führen. Johnson mag darauf spekulieren, dass in Zeiten der Corona-Pandemie legalistische Scharmützel mit der EU die britische Öffentlichkeit nicht groß interessieren.

Verfassungsbruch belohnt

Außerdem mag Johnson durch einen früheren Verstoß ermuntert worden sein: Im letzten Herbst hatte er eigenmächtig das Parlament aufgelöst, was die Gerichte hinterher als Verfassungsbruch bewerteten. Im anschließenden Wahlkampf allerdings haben ihn die britischen Wähler nicht abgestraft, sondern ihm im Dezember eine klare Mehrheit geschenkt.

Eine Ironie liegt darin, dass Johnson die Wahlen gewann, weil er den Briten einen Austrittsvertrag versprach, den er jetzt in Teilen annullieren will. Seine Begründung, dies zu tun, weil er für den Fall eines No Deal vorsorgen wolle, greift allerdings überhaupt nicht. Gerade für den Fall, dass kein Handelsabkommen zustande kommt, diente das Nordirland-Protokoll als Rückversicherung für die EU.

Allerdings dürfte Johnson richtiger liegen mit seiner Befürchtung, dass es Ende des Jahres zu einem No Deal kommen könnte. Die Chancen auf eine Einigung bei den Brexit-Verhandlungen liegen mittlerweile laut Insidern aus der Downing Street bei weniger als 30 Prozent. (Jochen Wittmann aus London, 9.9.2020)