Michael Häupl will sich für den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft einsetzen.

Foto: Matthias Cremer

Fast 24 Jahre war Michael Häupl Wiener Bürgermeister. Im Jahr 2018 übergab der SPÖ-Politiker das Zepter an Michael Ludwig. Am Freitag tritt Häupl sein neues Ehrenamt als Präsident der Wiener Volkshilfe an, wo er sich besonders gegen Kinderarmut einsetzen will. Eine Rückkehr in die Politik schließt er auf allen Ebenen aus.

STANDARD: Vor zwei Jahren haben Sie Ihre Spitzenämter zurückgelegt. Wie oft haben Sie seither das Gefühl gehabt: Das hätte ich anders gemacht?

Häupl: Natürlich habe ich mir das manchmal gedacht. Aber das ist wurscht. Man muss Respekt vor den Entscheidungen haben, die jene treffen, die Verantwortung haben. Ich konnte die Begründung des Bürgermeisters immer nachvollziehen.

STANDARD: Auch jene der SPÖ?

Häupl: Der Wiener SPÖ: ja. Im Bund habe ich nicht alles nachvollziehen können. Einen künstlichen Disput herzustellen über die Frage Arbeitszeitverkürzung versus Mindestlohn – das war ein bisschen unsinnig. Wir müssen mit den sozialen Problemen fertig werden und die vorhandene Arbeit möglichst gerecht aufteilen. Das kann nur ein Sowohl-als-auch sein.

STANDARD: Die Grünen in Wien fordern einen Mindestlohn und die 35-Stunden-Woche für Magistratsbedienstete.

Häupl: Ich kann den grünen Freunden nur empfehlen, sich die Wirklichkeit anzusehen. 1.700 Euro Mindestlohn im Rathaus kostet nicht viel. Als Finanzstadtrat würde mir das keine Sorgen bereiten.

STANDARD: Wien wird mit der Corona-Ampelfarbe Gelb beurteilt. Masken müssen in der Schule und bald in allen Geschäften getragen werden. Zu Recht?

Häupl: Die Maske ist kein Folterinstrument. Es gibt ein größeres Unglück, als Vorsichtsmaßnahmen einzuhalten. Natürlich hat man in einer Zwei-Millionen-Stadt mehr Fälle als in anderen Regionen. Je mehr man testet, je besser das Contact-Tracing funktioniert, desto mehr Fälle deckt man auf. Das schreckt mich nicht.

STANDARD: Was schreckt Sie sonst?

Häupl: Mich erschrecken Demonstrationen, wo unter der Führung von Rechtsradikalen die Regenbogenfahne zerrissen und das Coronavirus geleugnet wird.

STANDARD: Wie beurteilen Sie die Performance der Bundesregierung?

Häupl: Alles, was den Kampf um die Volksgesundheit betrifft, war okay. Was ich nicht gemacht hätte: so mit Angst zu operieren, wie es die Regierungsspitze getan hat. Das wäre mir zuwider gewesen. Nicht einmal die moderne Kirche arbeitet heute mit der Angst vor dem Teufel. Ein anderes Problem: Das komplette Herunterfahren der Wirtschaft hat eine soziale und eine gesellschaftliche Krise ausgelöst. Man stürzt nicht unerhebliche Teile der Gesellschaft in ein neues Armutsproblem. Da muss man sich mehr einfallen lassen als Pressekonferenzen des Corona-Quartetts, das Dinge verspricht, die nicht gehalten werden. Es ist aber in dieser Zeit auch Aufgabe der Zivilgesellschaft, zu schauen, dass wir unsere Gesellschaft zusammenfügen. Dass dieses soziale Ausgrenzen sich in Grenzen hält.

STANDARD: Ist die soziale Ausgrenzung in Wien stark ausgeprägt?

Häupl: In einer Zwei-Millionen-Stadt gibt es eine erkleckliche Zahl jener, die soziale Probleme haben. Viele haben Migrationshintergrund. Das neue Proletariat sind Zuwanderer. Das trifft auf Kleinunternehmer auch zu. Den Brunnenmarkt gäbe es nicht ohne türkische oder ex-jugoslawische Zuwanderer. Da gibt es natürlich, ausgelöst durch Corona und nicht adäquat erfolgte Hilfszahlungen, einfach Probleme. Leute haben Angst vor dem sozialen Abstieg. Das geht bis in den Mittelstand hinein. Diese reale Armut und die Ängste vor der Deklassierung sind ein Nährboden für extremistische Strömungen. Das wollen wir nicht. Armut frisst Demokratie.

STANDARD: Die ÖVP spricht vom Sozialmagneten Wien. Mehr als 60 Prozent der Mindestsicherungsbezieher in Österreich leben in der Hauptstadt.

Häupl: Menschen mit Migrationshintergrund sind überproportional von den sozialen Folgeproblemen und von Armut betroffen. Das kann man in Kauf nehmen und die Sozialhilfe kürzen. Dann macht man das, was die vereinigten Reaktionäre in Wien verlangen. So produziert man politische und demokratiegefährdende Probleme. Mit der Sozialhilfe ist ein Minimum da, um sein Leben fristen zu können. Ich kann nur an die Christlichsozialen appellieren, dass sie die christlichsoziale Lehre ernst nehmen und Menschen, die von Armut betroffen sind, helfen – egal wo sie geboren sind.

STANDARD: Die Wiener FPÖ fordert Gemeindebauten nur für Österreicher. Die ÖVP verlangt den Nachweis von Deutschkenntnissen vor dem Einzug. Was sagen Sie dazu?

Häupl: Bei der FPÖ ist das weder neu noch originell. Die ÖVP macht das nach dem Motto: Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass. Sie versuchen FPÖ-Wähler bei der kommenden Wien-Wahl zu lukrieren.

STANDARD: Ihre Sympathien für die ÖVP-Ideen halten sich in Grenzen?

Häupl: Ja, natürlich. Dann sollen sie gleich verlangen, dass nur Österreicher in den Gemeindebau dürfen. Und die FPÖ soll verlangen: Ausländer raus. Das wäre nur konsequent.

STANDARD: Kann die Wiener SPÖ mit dieser ÖVP koalieren?

Häupl: Das ist ein Punkt, da mische ich mich sicher nicht ein. Da werde ich meinem Nachfolger keinerlei Ratschläge geben. Das wird er entscheiden.

STANDARD: Ab Freitag sind Sie Präsident der Volkshilfe Wien. Was ist Ihre Motivation für das Ehrenamt?

Häupl: Ich will mich für die bedrohten, deklassierten, armutsgefährdeten Personen einsetzen. Das ist mir ein Anliegen. Man muss in dieser wirtschaftlichen, sozialen, gesellschaftlichen Situation zum Schutz der Demokratie helfen. Sozialhilfe infrage zu stellen oder zu fordern, dass nur Menschen mit österreichischer Herkunft sie bekommen, dem ist entgegenzutreten. Vor solchen Diskussionen habe ich mich nie versteckt und verkrochen.

STANDARD: In Österreich ist fast jedes fünfte Kind armutsgefährdet. Hat auch Wien hier Aufholbedarf?

Häupl: Natürlich auch. Aber Wien hat die höchste Kindersozialhilfe von ganz Österreich. Die Forderung der Volkshilfe ist eine Grundsicherung. Es ist eine Hilfe für diejenigen, die sich selbst nicht helfen können.

STANDARD: Können Sie sich eine Rückkehr in die Politik vorstellen?

Häupl: Nein! In keiner Funktion.

STANDARD: Sie mussten eine schwere Krankheit überstehen, waren drei Monate im Spital, drei Wochen davon auf der Intensivstation. Was hat sich dadurch für Sie verändert?

Häupl: Ich habe Zeit gehabt nachzudenken. Etwa über die Frage, ob der Lebensstil, den ich die vergangenen 50 Jahre gepflogen habe, wirklich der optimalste war. Natürlich haben sich für mich auch Konsequenzen ergeben. Ich passe bei der Ernährung sehr viel mehr auf. Beim Alkoholkonsum ist das, was ich früher an einem Tag getrunken habe, jetzt auf die ganze Woche verteilt. Das war damals nicht arg, und jetzt ist es praktisch kaum mehr was. Und ich versuche mich ein bisschen mehr um die Familie zu kümmern. Das ist in der Vergangenheit zu kurz gekommen. Zudem engagiere ich mich in der Zivilgesellschaft. (Oona Kroisleitner, David Krutzler, 10.9.2020)