Die gegenwärtig beobachtbaren autokratischen Tendenzen bieten Anlass, über die Mechanismen nachzudenken, mit denen demokratische Entwicklungen verhindert und Demokratien geschwächt, ja zerstört werden können. Ein bevorzugtes Argument jener, die an der Macht sind und um jeden Preis bleiben wollen, lautet, dass ohne ihre Präsenz und ihr autoritäres Eingreifen der Verlust gesellschaftlicher Stabilität und Ordnung drohe. Diese oft primär zur Ausschaltung oppositioneller Kräfte gewählte Strategie weckt durchaus ominöse historische Erinnerungen – denn Maßnahmen zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung spielten eine gewichtige Rolle beim Untergang der Weimarer Republik (1919–1933).

Was genau waren diese präsidentiellen Notverordnungen, die das Ende von Deutschlands erster demokratischer Periode besiegelten? Auf welche verfassungsrechtlichen Grundlagen konnten sie sich berufen?

Unglaubliche Machtbefugnisse

Maßgeblich war Artikel 48 der Weimarer Verfassung, der sogenannte "Diktatur-Artikel". Artikel 48, Absatz 1 hielt fest, dass der Reichspräsident ein Land des Reiches "mit Hilfe der bewaffneten Macht" dazu anhalten konnte, seine "ihm nach der Reichsverfassung oder den Reichsgesetzen obliegenden Pflichten" zu erfüllen. Artikel 48, Absatz 2 ermächtigte den Reichspräsidenten, "die zur Wiederherstellung der [erheblich gestörten oder gefährdeten] öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen [zu] treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht ein[zu]schreiten". Besonders gewichtig war der Passus, dass der Präsident vorübergehend auch jene Artikel der Verfassung außer Kraft setzen konnte, die Grundrechte wie Versammlungsfreiheit, Schutz des Post- und Telegrafengeheimnisses, freie Meinungsäußerung und auch das Recht auf einen nur im Fall einer klaren Gesetzesverletzung zulässigen Freiheitsentzug garantierten.

Wie konnte ein Artikel, der dem Reichspräsidenten solche umfassenden Machtbefugnisse einräumte, überhaupt Eingang in die Verfassung einer parlamentarischen Demokratie finden?

Wie konnten die Schöpfer der Weimarer Verfassung übersehen, dass das republikanische System mit diesem Artikel seine eigene "Todeserklärung" gemäß "seiner eigenen Legalität" unterzeichnet hatte, wie Carl Schmitt dies 1933 in seiner sich den nationalsozialistischen Machthabern andienenden Schrift "Staat, Bewegung, Volk. Die Dreigliederung der politischen Einheit" formulierte?

Eröffnung des Reichstags 1930.
Foto: Bundesarchiv (Bild 102-10549 / CC-BY-SA 3.0) [https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/a/a9/Bundesarchiv_Bild_102-10549%2C_Berlin%2C_Er%C3%B6ffnung_des_Reichstages.jpg?uselang=de]

Gefahr für die Demokratie

Verantwortlich war ein grundlegendes Misstrauen gegenüber dem Parlament, dem Reichstag – ein Gefühl, das durch die politischen Unruhen nach dem Zusammenbruch des deutschen Kaiserreichs Ende des Ersten Weltkriegs verstärkt wurde. Als paradigmatisch kann die Haltung des damals schon berühmten Soziologen Max Weber gelten, der dem im November 1918 einberufenen Beratergremium für die Ausarbeitung einer Verfassung für die nach Kriegsende neu gegründete Republik angehörte. Weber sprach den in Sachen Demokratie unerfahrenen politischen Parteien und ihren Vertretern im Reichstag die Fähigkeit und den Willen zu einer konstruktiven Parlaments- und Oppositionspolitik rundweg ab. Mit seinem Wunsch nach einer starken Präsidialdemokratie nach amerikanischem Vorbild konnte sich Weber nicht durchsetzen. Doch sein Argument, der bis dato gängigen "Honoratiorenwirtschaft" im Reichstag ein Ende zu setzen und durch "gelegentliche persönliche Interventionen des Reichspräsidenten" politische Unruhen, aber auch eine Blockade der Regierung durch einen obstruktiven Reichstag zu verhindern, verfehlte nicht seinen Eindruck auf die Verfassungsgeber. Resultat war, dass Artikel 48 Teil der im August 1919 in Kraft tretenden Weimarer Verfassung wurde.

Ungeachtet enormer Probleme, nicht zuletzt des drohenden wirtschaftlichen Zusammenbruchs des Deutschen Reichs in den Jahren 1922–1924, ging vom Artikel 48 zunächst keine wirkliche Gefahr für die Demokratie aus. Dies änderte sich mit der Weltwirtschaftskrise und den infolge der extrem hohen Arbeitslosigkeit zunehmend instabilen politischen Verhältnissen. Seine volle destruktive Kraft entfaltete der Artikel 48 am 20. Juli 1932, als der damalige Reichskanzler Franz von Papen, gestützt auf eine Notverordnung des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg, die Regierung des Landes Preußen absetzte und sich selbst zum Reichskommissar Preußens ernannte.

Hüter der Verfassung

Papen ging es vor allem darum, eine oppositionelle Landesregierung auszuschalten und Kontrolle über die Polizei des mächtigsten Landes des Deutschen Reichs zu gewinnen. Der Vorwurf gegen Preußen lautete, dieses habe seine Pflichten gegenüber dem Reich verletzt (Artikel 48, Absatz 1) und könne die öffentliche Sicherheit und Ordnung nicht mehr gewährleisten (Artikel 48, Absatz 2). In der Tat war es in den Wochen vor dem 20. Juli zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Nationalsozialisten, Kommunisten und der Polizei gekommen. Ironischerweise waren diese Ausschreitungen eine Folge des von Papen selbst im Juni 1932 aufgehobenen Verbots der paramilitärischen SA (Nazi-Sturmabteilung) – eine bewusste Konzession Papens an die Nationalsozialisten, um sich deren Unterstützung zu sichern.

Die abgesetzte preußische Regierung klagte vor dem Staatsgerichtshof in Leipzig, der für Auseinandersetzungen zwischen dem Reich und Ländern zuständig war, allerdings keinem Verfassungsgerichtshof im eigentlichen Sinne entsprach. Am 25. Oktober 1932 entschied der Staatsgerichtshof, dass Preußen in der Tat den Artikel 48, Absatz 2 (Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung) verletzt habe, nicht aber seine Pflichten gegenüber dem Reich (also keine Verletzung von Artikel 48, Absatz 1). Das Gericht sah in diesem Urteil die Chance eines Kompromisses, was in Anbetracht der tiefen politischen Gräben illusorisch war. Die Reichsregierung ignorierte schlichtweg die mit dem Urteil verknüpfte Aufforderung, die Regierung des Landes Preußen wieder einzusetzen. Die Weimarer Demokratie war einer Präsidialdiktatur gewichen.

Im Konflikt Preußens mit dem Reich kam erschwerend hinzu, dass einige Rechtstheoretiker im Reichspräsidenten, und nicht in einem Verfassungsgerichtshof, den eigentlichen "Hüter der Verfassung" sahen. So argumentierte Carl Schmitt, der das Reich im Prozess "Preußen gegen das Reich" vor dem Staatsgerichtshof in Leipzig vertrat, der Reichspräsident müsse als "Hüter der Verfassung" eben manchmal in seinem Ermessen liegende genuin politische Entscheidungen treffen. Den Reichspräsidenten zum Garanten und Hüter der Verfassung zu erklären war Schmitt nur deswegen möglich, weil die Weimarer Republik keine klare Verfassungsgerichtsbarkeit kannte. Der Reichspräsident stand für Schmitt gleichsam über dem Gesetz. Seine (politischen) Aktionen konnten nicht von einem über allen parteipolitischen Interessen stehenden Verfassungsgerichtshof auf ihre Verfassungskonformität hin geprüft werden.

Desaströses Ende

Die gesamte Episode zeigt die wahre Macht, ja Gefahr, die von Notverordnungen ausgehen kann – insbesondere wenn diese sich vorrangig auf die für Manipulation und Missbrauch anfällige Formel der Wiederherstellung der "erheblich gestörten öffentlichen Ordnung und Sicherheit" stützen.

Hans Kelsen, damals Professor in Köln, machte sich keine Illusionen über die desaströse Situation. In einem Artikel in der November/Dezember-1932-Ausgabe der Zeitschrift "Die Justiz" kritisierte er das Urteil des Staatsgerichtshofs in Leipzig scharf und schrieb:

"Solange die Verfassung es nicht selbst verhindert, ist sie selbst es, die die Möglichkeit schafft, durch Anwendung des Art. 48/II das Reich aus einem Bundesstaat in einen Einheitsstaat zu verwandeln. Es wäre eine Selbsttäuschung, vor dieser Möglichkeit die Augen zu verschließen und sich auf die Illusion der 'sinngemäßen' Interpretation eines Verfassungs-Artikels zu verlassen, dessen Wortlaut die Handhabe bietet, die wichtigsten organisatorischen Bestimmungen anderer Artikel wieder aufzuheben."

Wenige Monate später waren Kelsens Befürchtungen wahr geworden. Die Nationalsozialisten waren an der Macht und gewillt, ihre Konzeption eines "Einheitsstaates" umzusetzen: ein totalitärer Staat mit unumschränkten Machtbefugnissen für den Führer. Hitlers erste Maßnahmen – die Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar 1933, die bürgerliche Rechte vehement einschränkte, und das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933, das der Regierung erlaubte, unabhängig vom Reichstag Gesetze zu erlassen und die Verfassung zu ändern – ruhten auf dem Artikel 48, Absatz 2 – genau so, wie Kelsen es vorausgesehen hatte. (Herlinde Pauer-Studer, 16.9.2020)