Ein europäischer Kreuzzug für soziale Gerechtigkeitsfragen: Ulrike Guérot lehrt in Krems und arbeitete einst auch für Kommissionspräsident Jacques Delors.

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Ihr neues, schlankes Buch scheut keinerlei Pathos. Die Deutsche Ulrike Guérot, langjährig geübt im Erforschen von europäischen Wendemarken, macht aus ihrer flammenden Ungeduld kein Hehl. Insofern gehört Ulrike Guérots druckfrischer, knackig lesbarer Essay "Nichts wird so bleiben, wie es war?" (Molden-Verlag) der eher verpönten Gattung der Erweckungsliteratur an. Das Fragezeichen? Eine Konzession an die Zögerlichen.

Sie predigt nicht erst seit gestern den "wahren" Zusammenschluss Europas. Die Politikwissenschafterin, in ihrem unermüdlichen Reden und Streben bekannt aus Funk und Fernsehen, agitiert nunmehr von der Donau-Uni Krems aus für die geeinte Republik Europa. Einen Staat für ausnahmslos alle Bürger soll es geben. Keinen Super-Moloch, der hinter verschlossenen Türen von ein paar volksvergessenen Technokraten gesteuert wird.

Im persönlichen Gespräch wirkt Guérots Predigtdienst am nachhaltigsten. Sie spricht druckreifer, als es ihre Bücher ohnedies sind. Guérot, in Sachen Europa bereits mit Robert Menasse gemeinsam aktiv, hat nicht zufällig die Pandemie zum Angelpunkt ihres Überredungsversuchs erkoren. Sie meint: "Auf einer abstrakten Ebene lässt sich nach Covid-19 sagen: Die Nationalstaaten sind zurück! Früher wurde uns eingeredet, die Wirtschaft könne alles besser. Jetzt ist es schön zu sehen, dass die Wirtschaft immer vom Staat gerettet wird, nicht umgekehrt!"

Kraft der Intervention

Die heilsame Kraft staatlicher Interventionskunst habe sich nicht bloß in der Pandemie bewährt. Guérot: "Der Staat kann: Geld schöpfen, stabilisieren, Intensivbetten aufbieten, die unteren Klassen schützen. Die Frage lautet nur: Auf welcher Ebene siedeln wir diese nutzbringende Entität namens ,Staat’ an?"

Um das Erreichen einer nächst größeren Einheit plausibel zu machen, empfiehlt Guérot beherztes Modellieren. Ausgerechnet das "Comeback" der lange verleugneten sozialen Frage soll einem neuen Bürger-Europa den Weg bahnen. Eine Gemeinschaft? Wird von unten gebildet. "Schon bei Platon ging es um das Gemeinwohl", sagt Guérot. Während für den hemmungslosen Markt-Liberalismus à la Thatcher und Reagan zusehends die Geschäftsgrundlagen entfallen, würden neue Ideen der Vergemeinschaftung ersichtlich.

"Nation Building" oder Staatsgründung: ein und dasselbe. Wobei Guérot sich auf Säulenheilige wie Max Weber beruft. Der meinte: Eine Menge von Menschen beschließt, "aus einer Gefühlslage heraus" einen Staat gemeinsam "hervorzutreiben". Was müsste Europa alles können? Digitalität und Elektromobilität entziehen jedem Patriotismus den Boden. Die landeseigene Beamtenschaft verschwindet, weil ihre Tätigkeitsbereiche ins Netz wandern. Ohne Postbüro gibt es keine ableckbaren Postwertzeichen. "Keine Post mehr, sondern Amazon. Kein öffentlich-rechtlicher Rundfunk mehr, sondern Netflix."

Komplexe Bedingungen

Und doch verbirgt sich hinter dem Radikalumbau der Industriegesellschaft ein mehrwertiges Geschehen. Dem guten, alten "Überbau" marxistischen Angedenkens wird wieder ein "Unterbau" zugeordnet: die Masse der (europäischen) Bürgerinnen mit ihren handfesten Bedürfnissen und sozialen Nöten. Erst hier, sagt Guérot, kommt das neue, sozial geeinte Europa ins Spiel.

Es sei an der Zeit, an Europas Autarkie zu denken. Donald Trump und Boris Johnson betrieben mit ihrer Zollpolitik eine Art von "Reindustrialisierung". Erwerbsarbeit müsse nicht mehr in Billiglohnländer abgesiedelt werden. Es mache bei Einhaltung der Klimaschutzziele Sinn, zuhause zu bleiben, zu töpfern, Salat anzubauen und den Euro daheim auszugeben.

Guérot: "Unter Kant‘schen Vernunftbedingungen kann Europa Tiroler Birnensaft trinken und muss nicht Kiwis aus Neuseeland importieren. Wir können Krebsmittel selbst herstellen, Louis-Vuitton-Taschen." Jetzt sollten wir auch schauen, dass wir von Amsterdam nach Thessaloniki sechs Zugreisestunden benötigen. Den Trans-Europa-Express womöglich nicht in China kaufen!

Ulrike Guérots Vorschläge wollen Schluss machen mit fruchtlosen Streitigkeiten zwischen sinnlos stolzgeschwellten europäischen Staaten. Sie denkt an eine einheitliche Arbeitslosenversicherung. Ihr schwebt eine europäische Republik als Haftungsgemeinschaft vor: endlich Schluss mit Zinsenfeilschen! Guérot fordert die Einführung einer "European Citizen Card". Und sie glaubt die Gesetze der Notwendigkeit auf ihrer Seite. NGO‘s wie die "European Citizens' Assembly" (ECA) würden längst an einer Einigung von unten arbeiten: "Während die Mainstream-Medien berichten: 'Heute startete Bundeskanzler Kurz seinen Staatsbesuch in Slowenien ...!'"

Der Pferdefuß? Guérots Erbauungsbuch rechnet mit allseits engagierten Bürgerinnen, die Europas Zukunft freudig selbst in die Hand nehmen. Guérots Miene verfinstert sich kurz. "Viele glauben ja jetzt, Demokratie sei so ein Trampolin, das man benutzt, und dann partizipiert man auch schon!" Aber, so Guérot: "Die Einführung von Airbus oder Eurocopter, das waren alles auch keine Ponyritte!" (Ronald Pohl, 11.9.2020)