Dramaturg Sven Hartberger schreibt in seinem Gastbeitrag über einen Satz von Sebastian Kurz, den man als "wichtigtuerisches Gerede abtun" könnte, wäre Kurz heute nicht der Bundeskanzler Österreichs.

"Es wird nicht ohne hässliche Bilder gehen." Der Satz über die Art, wie in Zukunft mit Menschen umgegangen werden solle, die vor Krieg, Folter und vollkommen unerträglichen Lebensumständen in den Hoheitsbereich der Europäischen Union geflüchtet sind, um hier das durch die Rechtsordnung der Union verbriefte Recht auf Asyl in Anspruch zu nehmen, ist legendär geworden.

Österreich bleibt in der Causa Moria hart: Kanzler Sebastian Kurz.
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Man könnte den Satz aus dem Jahr 2016 als wichtigtuerisches Gerede abtun. Man müsste auf diesen Satz auch nicht mehr zurückkommen, wenn der damalige Außenminister Sebastian Kurz nicht mittlerweile zum Bundeskanzler eines der reichsten Mitgliedsstaaten der Union aufgestiegen wäre und wenn er nicht weiterhin auf die Geltung dieser Handlungsmaxime bestehen würde.

Das Flüchtlingslager Moria nach dem Feuer.
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12.700 Menschen haben bis zuletzt unter unvorstellbaren Bedingungen im Flüchtlingslager Moria gelebt, einem Slum, der Raum für höchstens dreitausend bietet. Sie sind dort schutzlos jeder Art von Gewalt, von sexuellen Übergriffen, von Krankheit ausgeliefert und natürlich so gut wie rechtlos gewesen gegenüber der Macht, die sie – auf sehr dünner Rechtsgrundlage – ihrer Freiheit beraubt hat, in dem Lager, das laut Google "rund um die Uhr geöffnet", aber in Wahrheit doch wohl eher ein Gefangenenlager ist.

Gute Laune

Österreich ist leider nicht in der Lage, auch nur fünfzig Kinder aus dieser Hölle zu befreien, sie aufzunehmen und ihnen – oder gar auch ihren Eltern – Schutz und Heimat zu bieten. Wir sollen uns besser an die hässlichen Bilder gewöhnen, auch an die neuesten, die zeigen, was der Flächenbrand von den Elendsquartieren übrig gelassen hat, sofern wir uns überhaupt die gute Laune durch ihren Anblick verderben lassen wollen.

Es wird nicht ohne hässliche Bilder gehen. Über den Satz ist viel gedacht, gesagt und geschrieben worden, und tatsächlich gibt er ja auch in dankenswert vielfacher Weise zu denken. Man könnte sich beispielsweise Gedanken darüber machen, ob wir unsere Volksvertreter nicht gerade mit dem Auftrag wählen, das Entstehen jener Zustände, welche die hässlichen Bilder zeigen, zu verhindern oder ihnen dort, wo sie nun einmal entstanden sind, mit Entschiedenheit entgegenzutreten und Abhilfe zu schaffen. Das ist freilich nicht ganz so einfach und so bequem, wie sich einfach abzuwenden und die namenlose Not, die sie zeigen, zu einer Art notwendigem Bestandteil der guten Ordnung unserer Welt zu erklären.

Zwei Fragen

Unter den vielen Aspekten der Aussage ist der unscheinbarste, aber vielleicht bedeutungsvollste jener, der sich hinter dem neutralen Personalpronomen "es" verbirgt. "Es" wird nicht ohne hässliche Bilder gehen. Und es ist vielleicht lohnend, über zwei Fragen im Zusammenhang mit diesem "Es" nachzudenken, nämlich erstens darüber, worum genau es sich denn bei diesem "Es" handelt, das ohne hässliche Bilder nicht geht, und zweitens darüber, ob dieses "Es" wichtiger, wertvoller und schützenswerter ist als jene Güter, die wir auf den hässlichen Bildern preisgegeben, zerstört und vernichtet sehen. Die Antwort auf die zweite Frage ist aus der Sicht aller europäischer Rechtsordnungen sehr einfach zu beantworten: Ein "Es", das Vorrang vor dem Schutz von Leben, von körperlicher und seelischer Unversehrtheit beanspruchen kann, gibt es nicht.

Der Bundeskanzler der Republik Österreich ist darüber offenbar anderer Meinung. Aber auf die Frage, worum genau es sich bei diesem "Es" handelt, antwortet er nicht, Einladungen, über dieses "Es" zu sprechen, würdigt er nicht der geringsten Reaktion. Wir sind also ganz auf uns selbst gestellt: Was, um alles in der Welt, ist dieses "Es", das ohne hässliche Bilder nicht gehen wird? (Sven Hartberger, 11.9.2020)