Schmerz und Trauer: Gianfranco Rosis Syrien-Doku "Notturno".
Foto: Biennale

Das Kino wird auf die Erfahrung einer Pandemie seine eigenen Antworten finden. Bei der Mostra von Venedig ist es dafür noch zu früh. Das liegt einerseits am Lockdown selbst, der Filmproduktionen verzögert hat. Andererseits aber am Medium selbst: Es folgt einer anderen zeitlichen Logik als jeder Newsstream. So kann es helfen, mit zeitlichem Abstand Bilder neu zu bewerten und Brüche zu veranschaulichen, die sich erst langsam verfestigen.

An diese Vorzüge musste man am Lido, wo zuletzt mehrere Filme mit zeitaktuellen Bezügen zu sehen waren, mehrmals denken. Nicht immer war das Ergebnis berauschend, denn es gibt auch jene Sorte Festivalfilm wie Michel Francos Nuevo Orden, der Schock und Abscheu vor Reflexion und Besonnenheit stellt. Er hämmert mit seinen Thesen so lange auf das Publikum ein, bis es keine Unklarheiten mehr gibt.

Der mexikanische Filmemacher malt sich aus, wie eine polarisierte Gesellschaft in einen Aufstand schlittert, der mit erbarmungsloser Härte ausgetragen wird. Wer genau hinter der Rebellion steht, die schließlich eine private Hochzeitsfeier einer Familie der Oberschicht erreicht, bleibt offen – man sieht bloß zu, wie es der Herrschaftsklasse durch Aufständische im Exekutionsmodus an den Kragen geht. Vor einer Louis-Vuitton-Boutique liegen schließlich pittoresk die Leichen verstreut am Boden.

Politisierung gegen Rechts

Nuevo Orden will darauf hinaus, dass Machtstrukturen in Wahrheit unangetastet bleiben. Ein Reigen der Gewalt wird entfesselt, der sich mit unangenehm spekulativer Note vollzieht. Franco glaubt, es sei radikal, die sozialen Gefälle bis zum bitteren Ende zu denken. Tatsächlich handelt es sich um reinen Zynismus, weil es keinen einzigen Moment der Einkehr oder der Aufhebung dieses Prozesses gibt.

Mit der fortschreitenden Verhärtung in der Gesellschaft beschäftigt sich auch der deutsche Wettbewerbsbeitrag Und morgen die ganze Welt von Julia von Heinz. Der Titel ist provokativ, entstammt er doch einem verbotenen Kampflied der Nationalsozialisten. Die 44-jährige Regisseurin, eine Newcomerin im Festivalgeschehen, hat mit ihrem Film eigene Erfahrungen einer politisierten Jugend verarbeitet – bewegt hat sie sich allerdings nicht in rechten, sondern in Antifa-Kreisen.

Der Film ist in der deutschen Gegenwart von rechtsextremen Wahlplakaten und Gewalt gegen Geflohene angesiedelt. Erzählt wird das Drama einer linken Radikalisierung: Für die Jusstudentin Luisa (Mala Emde) genügt der Gang durch die Institutionen nicht, sie sucht den Aktivismus und beginnt sich in einer autonomen Gruppe zu engagieren. Die Anfängerin, die nach der ersten Demo noch im Bett bibbert, entpuppt sich als eine der Entschlossensten in ihrem Kreis. Anders als der pragmatische Lenor (Tonio Schneider) ist sie zu physischer Gewalt bereit, selbst Alfa (verkörpert vom Burgenländer Noah Saavedra) wirkt neben ihr wie ein Poser.

Popkulturelle Rebellion

Julia von Heinz entwirft dieses Entwicklungsstück mit einer stark popkulturellen Note: Die Schnitte sind rhythmisch gesetzt, die Kamera reißt gerne nach allen Seiten aus. Die Frage nach der Legitimität von Gewalt handelt der Film allerdings eher vordergründig pflichtschuldig ab. Ähnlich wie Die fetten Jahre sind vorbei Anfang der 2000er-Jahre interessiert er sich mehr für den Ausdruck eines Lebensgefühls als dafür, wie Gesinnung zu Ideologie wird. Immer dann, wenn sich der Film politisch gebärdet, wirkt er ein wenig linkisch und auch zu instruktiv.

Die Anlage des Kinos, die Verwerfungen der Realität zu verdichten und einen anderen Blick hervorzukehren, gelang am Lido wohl nicht von ungefähr einem Dokumentarfilm am besten. Gianfranco Rosi hat sich in bereits in seinem Berlinale-prämierten Seefeuer mit der Flüchtlingskrise auf Lampedusa befasst. In Notturno löst er nun die Gegenperspektive ein, drei Jahre lang hat er in Syrien und angrenzenden Regionen gefilmt.

Kriegerisches Geschehen zeigt er nicht, vielmehr sammelt er die Nachbilder desselben im Blick auf eine ethnisch diverse Zivilbevölkerung, die in unsicheren Schritten eine Rückkehr ins Leben versucht. Rosi zeigt Kinder, die in ihren Bildern die IS-Gräuel zu bannen versuchen, politisches Bewältigungstheater innerhalb der Psychiatrie, Peshmerga-Soldatinnen im Wartemodus oder eine Mutter, die die Sprachnachrichten ihrer verschleppten Tochter rekapituliert.

Notturno ist ein Filmmosaik über das Überleben auf verbrannter Erde. Er maßt sich nicht an, die Trauer dieser Menschen verstehen zu wollen. Die Schönheit des Films, seine ausgesucht komponierten Bilder erscheinen nie anstößig. Sie geben dem Schmerz eine Form. (Dominik Kamalzadeh aus Venedig, 11.9.2020)