Am zweiten Tag nach den Bränden im Lager Moria auf der griechischen Insel Lesbos ist die Kontroverse um die Aufnahme der vom Feuer quer über die Insel vertriebenen Menschen in der EU voll entbrannt.

Auf Lesbos stellen die Flüchtlinge an den Straßenrändern und in den Feldern Zelte auf, legen Schlafsäcke aus oder übernachten auf dem nackten Boden – in Frankreich kündigte Präsident Emmanuel Macron einen Aufnahmevorstoß zusammen mit Deutschland an. Es gelte, vor allem Minderjährige zu evakuieren. Auch Dänemark und andere nordeuropäische Staaten zeigten sich prinzipiell beherbergungsbereit.

Nicht so in Österreich, präziser: bei den regierenden Türkisen. Sie verbitten sich jeden Gedanken an eine derartige Rettungsaktion – auch vom grünen Koalitionspartner. Knicke man aus menschlichen Gründen ein und lasse Flüchtlinge aus Moria einreisen, vergrößere man das Problem, lautet die krude Argumentation.

Durch Brände vertriebene Menschen aus dem Lager Moria auf der griechischen Insel Lesbos.
Foto: AFP/LOUISA GOULIAMAKI

Dann nämlich sei auf Lesbos mit dem baldigen Auftauchen vieler neuer Boote aus der Richtung der Türkei zu rechnen, und das Lager werde sich von neuem füllen, womit nichts gewonnen wäre. Also müsse man hart bleiben. Aus dem Mund von Außenminister Alexander Schallenberg im ORF-Interview hörte sich das wie eine moderne flüchtlingspolitische Adaptierung von Karl Kraus’ szenischer Antiweltkriegstragödie "Die letzten Tage der Menschheit" an.

Absurditäten

Tatsächlich ist man in Europa in Flüchtlingsfragen drauf und dran, das humanitäre, menschenrechtsorientierte Denken aufzugeben, das diesen Kontinent auszeichnet. Nach der fortgesetzten Unfähigkeit, sich in Sachen Flüchtlingsverteilung innerhalb der EU zu einigen, hat man sich an der griechischen Unionsaußengrenze in eine verzweifelte Situation hineinmanövriert.

Das führt zu Absurditäten und Zynismus. Immer unverhohlener wird das Elend auf den griechischen Inseln als Abschreckungsfaktor gegen weiteren Flüchtlingszuzug genutzt. Nicht nur von diversen Rechtsauslegern in den Regierungskanzleien der EU, sondern auch in Griechenland selbst. Dort hat man mit dem großen Nachbarstaat auch noch andere Probleme, etwa den Konflikt um die Gasvorkommen vor Zypern. Diese haben das Misstrauen Griechenlands gegen die Türkei erhöht und die bilaterale Kommunikationsbereitschaft in Flüchtlingsangelegenheiten sicher nicht gefördert.

In ihrer Ausweglosigkeit erinnert die Lage auf Lesbos immer stärker an jene in den australischen Flüchtlingsinternierungslagern auf den Inseln Nauru und Manus, wo laut Amnesty International jahrelang Menschenrecht gebrochen wurde. Asylsuchende in eigenen Einrichtungen von den Ländern, in die sie streben, fernzuhalten ist höchst problematisch.

Genau dorthin jedoch, zu noch mehr Lagern an und vor den EU-Außengrenzen, geht in der EU derzeit die Reise. Der von der Kommission vorgeschlagene Pakt über Asyl und Migration sieht ein "Grenzverfahren" vor, das in neu errichteten Zentren abzuwickeln wäre – nicht nur in Griechenland, sondern an allen infrage kommenden Außengrenzen der EU. Hier auf der Einhaltung geltender Menschenrechtsstandards zu beharren wird eine wichtige Aufgabe in den kommenden Monaten sein.

Das viel drängendere Problem sollte darüber aber nicht vergessen werden: Die Flüchtlinge aus Moria brauchen eine Perspektive – auch in Österreich. (Irene Brickner, 10.9.2020)