Kabinettsminister Michel Gove führte Notgespräche mit der EU. Mit wenig Erfolg.

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High Noon in London. Der Vizepräsident der EU-Kommission, Maroš Šefčovič, eilte am Donnerstag in die britische Hauptstadt zu Krisengesprächen mit Kabinettsminister Michael Gove. Die EU, hieß es, sucht eine "Klarstellung von Großbritannien über die volle und zeitnahe Umsetzung des EU-Austrittsabkommens".

Denn in Brüssel schrillen die Alarmglocken, nachdem die britische Regierung am Mittwoch einen Gesetzesentwurf vorgestellt hatte, der auf eine Annullierung von Teilen des Brexit-Vertrags hinausläuft. Die "Internal Market Bill" räumt einseitig britischen Ministern ein, Bestimmungen des Scheidungsvertrags auszusetzen. Man habe "schwerwiegende Bedenken wegen dieses Gesetzes", sagte Šefčovič nach seiner Ankunft in London. Nach dem Gespräch setzte er hinzu, London habe "viel Vertrauen kaputt gemacht".

Der britische Vorstoß wird als klare Provokation verstanden. Noch während die Verhandlungen über ein zukünftiges Freihandelsabkommen zwischen dem Königreich und der EU laufen, ließ London einen Sprengsatz platzen, indem man klarmachte, dass man sich nicht an die Vorschriften des ersten Scheidungsabkommens halten wolle.

Versprochen, gebrochen

Den hatte immerhin Premierminister Boris Johnson persönlich ausgehandelt, unterschrieben, schließlich im Jänner ratifiziert und als international verbindlichen Vertrag bei den Vereinten Nationen hinterlegt. Jetzt ist seine Regierung bereit, das Völkerrecht zu brechen.

Wütende Reaktionen waren vorhersehbar. Irland wäre vom Zusammenbruch der Gespräche besonders hart betroffen. Premier Micheál Martin bedeutete Johnson, dass er "ernstlich besorgt ist über Großbritanniens Absicht, einen internationalen Vertrag zu brechen". Die Sprecherin der US-amerikanischen Demokraten, Nancy Pelosi, drohte, wenn London ein internationales Übereinkommen missachte, gebe es keine Chance, dass ein Handelsdeal mit Washington den dortigen Kongress passieren könne. Man fühle sich dem Frieden in Nordirland schließlich verpflichtet.

Probleme für Irland

Der Zukunft des kleinen EU-Mitgliedslands Republik Irland im Süden gilt die Hauptsorge in den EU-Institutionen – neben der Frage, was ein radikaler Bruch für die Wirtschaft im Binnenmarkt bedeuten würde. Nicht alle EU-Staaten wären davon gleich stark betroffen. Für Irland ist im Agrarsektor der britische Markt essenziell. Großbritannien ist ein großer Abnehmer und für die Durchfuhr von Gütern auf den Kontinent wichtig. Ein großes Problem sind die Fischereirechte in Nordsee und Atlantik, vor allem für Frankreich und die Niederlande, die deutsche Autoindustrie würde leiden.

Sollte Johnson alle Regeln ignorieren, stellt sich auch die Frage, ob er die Rechte von rund 3,7 Millionen EU-Bürgern achten wird – wie vereinbart. Wie es weitergeht, dürfte beim nächsten EU-Gipfel Ende September festgelegt werden. Die EU-Staaten wollen Johnson zu einem Sondertreffen zwingen. Ein historischer Ort acht Kilometer vor den Toren von Brüssel böte sich an, ist aber historisch belastet: Waterloo. (Jochen Wittmann aus London, Thomas Mayer aus Brüssel, 11.9.2020)