Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) kritisierte die Aussagen von Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP).

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Die Debatte um das Flüchtlingslager Moria auf Lesbos und die mögliche Aufnahme der dort gestrandeten Menschen schneidet bei den Grünen tief und schmerzhaft ins Fleisch. Kein anderes Thema zeigt so deutlich den Widerspruch zwischen der neuen, türkisen Volkspartei unter Sebastian Kurz und den Grünen, die sich immer noch als Menschenrechtspartei verstehen. Ist das der Preis der Macht? Dass Grüne ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzen und der ÖVP ausgeliefert sind? Dass Österreich keine Flüchtlinge aufnehmen wird, weil Sebastian Kurz das nicht will?

Gerade die jüngsten Wortmeldungen haben zu einer schweren atmosphärischen Verstimmung zwischen Türkis und Grün geführt, die sich kaum auflösen lässt. Unter Kurz wird Österreich keine Flüchtlinge ins Land holen, nicht hundert, auch nicht zehn, nicht einmal fünf, das haben ÖVP-Vertreter unmissverständlich klargemacht. Es soll nicht einmal eine symbolische Aktion geben, diese erst recht nicht. "Decken und Zelte", das ist das, was die ÖVP anzubieten hat, Außenminister Alexander Schallenberg hat das so kundgetan. "Wenn wir das Lager Moria räumen, ist es gleich wieder gefüllt", argumentierte er, "das Geschrei nach Verteilung kann nicht die Lösung sein."

"Weniger Zynismus"

Die Aussagen von Schallenberg stoßen auch bei den Grünen auf Kritik, Parteichef und Vizekanzler Werner Kogler reagierte am Donnerstag im Gespräch mit dem STANDARD: "Ich erwarte mir mehr europäischen Geist und mehr Menschlichkeit und weniger Zynismus. Österreichs internationales Ansehen war immer getragen von dieser Menschlichkeit und solidarischem Verhalten in Europa und in der Welt."

Kogler fordert die Aufnahme von Flüchtlingen. "Wir werden weiter daran arbeiten, unseren Koalitionspartner zu überzeugen, dass angesichts der dramatischen und unmenschlichen Zustände in Moria insbesondere für Mütter und Kinder schnelle Hilfe notwendig ist." Der grüne Vizekanzler verweist auch auf Deutschland und Frankreich, die sich am Donnerstag bereit erklärt haben, 400 Jugendliche aus dem Lager Moria aufzunehmen. "Wenn Deutschlands Kanzlerin Merkel und Frankreichs Präsident Macron und sogar der bayrische Ministerpräsident Söder Kinder aufnehmen, dann kann das Österreich auch. Wir wissen, dass viele Gemeinden, Pfarren und Hilfsorganisationen bereit sind, Platz und Betreuung zu stellen – für unseren österreichischen Beitrag zu einer europäischen Solidaritätsaktion."

"Gewaltbereite Migranten"

Bei der ÖVP stößt Kogler mit seiner Forderung allerdings auf taube Ohren. Bundeskanzler Sebastian Kurz hat am Donnerstag auf Facebook kommentarlos einen Beitrag der "Krone" geteilt, wonach das Feuer im Lager Moria von den Flüchtlingen selbst gelegt worden sei. Zuvor hatte bereits Innenminister Karl Nehammer auf Twitter festgehalten: "Gewaltbereite Migranten haben keine Chance auf Asyl in Europa".

Die Führungsspitze der Grünen bekommt ordentlich Druck von unten, von Funktionären auf allen Ebenen, aus dem Parlament, den Bundesländern und Bezirken, medial und in den sozialen Netzwerken. Handlungsspielraum gibt es aber keinen: Parteichef und Vizekanzler Werner Kogler kennt die Position von Kurz, die hat sich seit den Koalitionsverhandlungen nicht geändert. Da geht nichts. Drohpotenzial haben die Grünen keines. Sie könnten nur das Aus der Koalition androhen – und das wollen sie selbst unter keinen Umständen. Dann würde alles nur noch schlimmer, wahrscheinlich mit blauer Beteiligung, so die Argumentation.

Antrag im Nationalrat

Was jetzt passiert, zeigt das Dilemma der Grünen auf. Gegen die ÖVP können sie nichts durchsetzen, und sollte von der Möglichkeit des koalitionsfreien Raums Gebrauch gemacht werden, was ja möglich wäre, gäbe es sofort eine Allianz aus ÖVP und FPÖ. Wenn es am kommenden Mittwoch in der Sondersitzung des Nationalrats also einen – erwartbaren – Antrag der Neos oder der SPÖ geben wird, Flüchtlinge aus Moria in Österreich aufzunehmen, werden die Grünen zähneknirschend nicht dafür stimmen. Der Druck der Basis, aber auch von befreundeten Hilfs- und Menschenrechtsorganisation wird steigen.

Die grüne Vizeklubchefin Ewa Ernst-Dziedzic flog am Donnerstag nach Lesbos, das sollte wenigstens ein Signal sein. "Wir sind mit der ÖVP im Gespräch und werden den Druck weiter aufbauen." Fakt sei allerdings: "Wir haben aktuell keine Mehrheit im Parlament." Selbst wenn die Grünen mit den Oppositionsparteien SPÖ und Neos stimmen würden und damit gegen den Koalitionspartner, kämen sie gemeinsam nur auf 81 Stimmen, während ÖVP und FPÖ 101 Stimmen im Nationalrat hätten. Es wäre unverantwortlich, einen Koalitionsbruch zu riskieren und sich damit die Möglichkeit zu verbauen, mit der ÖVP doch noch etwas zu erreichen, argumentiert Ernst-Dziedzic. Hoffnungsvoll klingt sie nicht: "Die Position der Volkspartei widerspricht meiner Haltung, meinen Überzeugungen und aus meiner Sicht auch dem Gebot der Menschlichkeit", erklärte sie. "Wem es bei diesen furchtbaren Bildern nicht das Herz zerreißt, der ist ein Zyniker. Wer Menschen unter Generalverdacht stellt, um ihnen so Hilfe zu verwehren, ist am falschen Pfad."

Für die Aufnahme von Kindern aus dem Lager sprachen sich am Donnerstag auch SPÖ und Neos aus. "Wer Kinder verkommen lassen will, vergeht sich an den Werten Österreichs und Europas. Moria ist eine Schande und offenbart die Feigheit und Kleingeistigkeit einiger europäischer Regierungen, Kinder in Elend zurückzulassen, statt für rasche Hilfe und Lösungen zu sorgen", sagte SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner. Die Neos luden zu einer Inszenierung vor dem Außenministerium. Unterstützt wurde die Forderung nach Aufnahme von Menschen von mehreren heimischen Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen, Caritas und dem Roten Kreuz. Auch die Österreichische Bischofskonferenz meldete sich zu Wort und forderte die Regierung auf, sich an der Aufnahme von Flüchtlingen aus dem niedergebrannten Lager zu beteiligen.

Seehofer unter Druck

In Deutschland sind sich Grüne und SPD einig: Flüchtlinge aufnehmen, sofort. Das erhöht den Druck auf Kanzlerin Angela Merkel und Innenminister Horst Seehofer (CSU), die eine EU-Lösung wollen.

Das Thema sorgt für Spannungen innerhalb der Union. Entwicklungshilfeminister Gerd Müller (CSU) plädiert für die Aufnahme von 2000 Flüchtlingen aus Moria in Deutschland, der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Armin Laschet (CDU) sagt, sein Land könne 1000 Menschen rasch Platz bieten.

Nordrhein-Westfalen braucht wie andere willige Länder die Zustimmung des Bundes, weil dort die Entscheidungshoheit bei der Aufnahme von Flüchtlingen liegt – wie in Österreich. In einem Brief an Seehofer ersuchen 16 Abgeordnete von CDU und CSU, dass Deutschland "notfalls auch alleine 5000 Flüchtlinge" aufnimmt. Merkel hat mit dem französischen Präsidenten Macron nun die Aufnahme von 400 Minderjährigen vereinbart. (Michael Völker, Birgit Baumann, 11.9.2020)