Plácido Domingo als Simon Boccanegra: eine tragische Figur, der man ihre unschuldige Liebe zu ihrer wiedergefundenen Tochter ebenso abnimmt wie den Todeskampf und den Frieden mit sich und der Welt.

Foto: Michael Poehn

Was ihn seit vergangenem Jahr in die Schlagzeilen brachte, ist bekannt und lastet seither auf seinem Namen. Nicht ganz so schlimm wie ein Fluch in einer Verdi-Oper, aber ebenso wenig loszuwerden. Doch als Plácido Domingo am Mittwoch nach dem Ende der ersten Aufführung einer Simon Boccanegra-Serie auf der Bühne der Wiener Staatsoper stand, ihm seine treuesten Fans über zwanzig Minuten lang applaudierten und der Sänger charmant lächelte und winkte, schien alles vergessen.

Unter seinen größten Enthusiasten wird MeToo ohnehin am liebsten zur Seite geschoben. Was für die einen ein Tabu ist, bildet für die anderen ein Dauerthema und wird genutzt, um auch am Sängerischen über Gebühr herumzumäkeln. Dabei wäre es nicht so schwer, anzuerkennen, dass jemand ein Ausnahmekünstler sein kann und dennoch Unentschuldbares anstellte.

Verdis Melodramma schildert die Verstrickung von Schuld und Liebe, Hass und Vergebung so eindringlich, dass sich daraus alle nötigen Schlüsse ziehen ließen.

Solide Kraft

Kaum dass Domingo die Bühne betritt, verströmt er eine unvergleichliche Präsenz, lässt mit den ersten Schritten und Gesten das Schicksalsschwere seiner Figuren erahnen. Diese Wucht besitzt Domingo auch nach seiner mehr als 60-jährigen Karriere wie eh und je. Nach dem strategisch klugen Wechsel vom Tenor- zum Baritonfach vor sieben Jahren darf man die Vitalität seiner Stimme nicht mit ihm selbst auf dem Höhepunkt seines Könnens vergleichen. Dennoch klingt er noch heute solider und kräftiger als manche bekannte Kollegen, die um drei Jahrzehnte jünger sind, singt voller Glanz und Ausdruck.

Wo er an Grenzen stößt, wirkt es so, als gehöre dies ganz notwendig zur Charakterisierung der Figur – und verstärkt noch seine Überzeugungskraft. Eine große, tragische Figur, der man ihre unschuldige Liebe zu ihrer wiedergefundenen Tochter ebenso abnimmt wie den schmerzvollen Todeskampf und den Frieden mit sich und der Welt.

In die Jahre gekommen

Wie in jeder neuen Operndirektion stehen derzeit Haus- und Rollendebüts auf der Tagesordnung, die derzeit eine glückliche Hand erahnen lassen. Neu am Ring sind Najmiddin Mavlyanov, der in der Rolle des Gabriele Adorno mit Schmelz und Volumen überzeugte, sowie Attila Mokus als düsterer, expressiver Paolo. Vielschichtig zwischen Warmherzigkeit und Groll zeichnete Günther Groissböck den Fiesco, voluminös, doch zuweilen angestrengt klang Hibla Gerzmava als Amelia/Maria.

Dirigent Evelino Pidò sorgte für Leichtigkeit und Flexibilität, konnte jedoch nicht verhindern, dass selbst kräftige Stimmen manchmal nur schwer durchkamen. Die Inszenierung von Peter Stein von 2002 wirkt inzwischen trotz ihrer tollen Farb- und Raumwirkungen besonders bei den Chorszenen fast ebenso in die Jahre gekommen wie manche viel ältere Arbeiten – und jedenfalls mehr als ihr Protagonist. (Daniel Ender, 11.9.2020)