Vor mir die Pillen. Vier Stück. 100 mg. Cortison. Die erhoffte Spontanheilung ist in den letzten Monaten nicht eingetreten. Der Schatten auf meiner Lunge hat sich ausgebreitet – also Medikation. Wenn jemand fragt, sage ich: "Ich habe die Thomas-Bernhard-Krankheit!" Ein kurzes Auflachen. Ungläubige Blicke. Sie wissen, ich bin zur Lüge nicht fähig.

Ein halbes Jahr zuvor kam die Diagnose. Es war ein Zufallsfund. Meine Hausärztin schickte mich zum Lungenröntgen, weil ich die vergangenen Winter ständig erkältet und niedergeschlagen war. Vom Röntgen zur Computertomografie und der erste Verdacht: Sarkoidose (Morbus Boeck).

Krankenhaus Hietzing. Vorbei an Baumskeletten im Morgendunst. Ich kannte diesen Ort gut, aber hatte es bisher nur bis zur Pathologie geschafft. In Ausnahmefällen helfe ich dem Bestatter bei Leichenüberführungen.

Lungenfunktionstests und Vorbereitung auf die anstehende Bronchoskopie im Pavillon VIII. Neben mir Menschen, an deren Bewegungen man erkannte, dass dieser Ort Teil ihrer Routinen geworden war. Was machte ich hier? Ich hatte weder akute Symptome einer Krankheit noch irgendwelche Beschwerden; da waren nur Bilder, die anderes sagten.

Kurz bevor der Anästhesist die Spritze ansetzte, fragte er mich, was ich beruflich machen würde. Ich redete von der Arbeit auf dem Friedhof und schlief ein, als ich von meinem letzten Buch erzählte: Die Leiden des jungen Totengrä ... bla bla bla ...

Befundbesprechung: Sarkoidose im Stadium II. Der Behandlungsvorschlag klang so, als wäre er direkt aus einer Bibel des "Österreichischen" entnommen: Nichts tun und hoffen, dass alles besser wird. Die Spontanheilungsrate sei in dieser Phase noch hoch, sagte der junge Arzt aus Serbien und schlug nach sechs Monaten eine Verlaufskontrolle vor.

Die "Verstörungen 2020 – ein Fest für Thomas Bernhard" finden von 15. bis 20. September 2020 in Goldegg statt. Der Ideengeber und Geist des Festivals, Suhrkamp-Cheflektor Raimund Fellinger, ist heuer am 25. April in Frankfurt verstorben. "Die Verstörungen 2020" werden auch ein Fest für Raimund Fellinger werden.
verstörungen.at
derseehof.at
Foto: Matthias Cremer

Tief in seine Welt abgetaucht

Ich war erleichtert und verärgert zugleich. Wozu all das Tamtam, wenn die Krankheit von alleine verschwand? Ich wurde in einem Umfeld groß, in dem es die Ärzte sind, die einen krank machen, und fand jetzt Bestätigung darin. Hätte ich nichts unternommen, wäre ich auf dasselbe Ergebnis gekommen – ohne die Last des Wissens und den schlafraubenden Gedankenspielen.

"Die Krankheit war sein Lebenselixier", heißt es im Nachruf auf den Schriftsteller Thomas Bernhard im Spiegel. "Der Morbus Boeck, der ihm seit langem in Herz und Lunge saß, rätselhaft und unheilbar, seine Krankheit zum Tode, die ihm den Atem verschlug und ihn in und an Österreich ersticken ließ, bestimmte sein Verhältnis zur Welt der Gesunden und seinen Platz im Leben."

Jahrelang hatte ich mich mit Bernhard beschäftigt und war so tief wie möglich in seine Welt abgetaucht. Für einige Wochen lebte ich sogar in einem seiner Häuser, um diesen Autor mit allen möglichen Mitteln zu überwinden, und nun brach seine Krankheit in mir aus. Das Leben liefert Zufälle, die in der Kunst unmöglich wären. Niemand würde sie glauben, man würde sie als reines Konstrukt abtun. Vielleicht musste ich das jetzt als Zeichen sehen, um meine Studie endgültig zu beenden? Wer könnte in einer Zeit der Authentizitätsgier besser über diesen Menschen schreiben als jemand, der seine Todeskrankheit in sich trägt? Ich öffnete die Datei, und mir rann der Angstschweiß über den Rücken.

Erster Tag der Cortisontherapie. Ich fühle mich leer und ausgebrannt. In der Nacht konnte ich kaum schlafen. Ich habe den Fehler gemacht, die Nebenwirkungen nachzuschlagen: Schlafstörungen, Psychosen, Ausschläge, aufgedunsenes Gesicht und Gewichtszunahme ... lasse etwas Wasser im Mund und schlucke die Pillen. Ich steige mit der höchsten Dosis ein, die empfohlen wird: alles oder nichts.

Mein Lungenarzt zeigte mir am Tag zuvor die neuen Bilder. "Die weißen Flächen haben sich verdichtet", sagte er. Ich schüttelte ungläubig den Kopf. So sehr war ich von meinen Selbstheilungskräften überzeugt und lebte die letzten Monate, ohne an die Krankheit zu denken. Ich grub meine Löcher und schrieb an dem Buch, weswegen ich überhaupt erst zu schreiben begann.

Ich kann kaum noch atmen

Mein Magen rebelliert. Ich versuche zu lesen, versuche mich irgendwie abzulenken, aber nehme jetzt jede Regung meines Körpers als Auswirkung des Medikaments wahr. Bevor ich mich völlig verrückt mache, gehe ich mit dem Hund in den Wald. Durch den Regen ist alles verwachsen. Ich durchschneide Spinnennetze, die an meiner Haut kleben bleiben, bekomme Hitzewallungen und kann kaum noch atmen. Was ist noch normal oder den Tabletten geschuldet?

"Stellen Sie sich ihre Lunge als Haus vor, in dem Spinnen sitzen", sagte der Arzt zu mir, als ich nach mehreren Anläufen noch immer nicht verstand, was diese Krankheit ist, die mich von innen her auffrisst. "Erst haben wir versucht, von außen möglichst viel Lärm zu machen, damit das Ungeziefer von alleine verschwinden, aber jetzt müssen wir sie ausbrennen." Selten hatte ich den Grad meiner Unmündigkeit deutlicher gespürt als in dem Moment, wo mir die Welt durch Tiermetaphern erklärt wurde.

Zweiter Tag im Drogenland. Ich habe keine Erfahrung mit Medikamenten. Bisher bin ich verschont geblieben. Als Kind habe ich am Bauernhof wohl genug "Dreck gefressen", wie es meine Eltern sagen würden. Ein leichtes Brennen fühle ich unter der Haut, eine gewisse Trockenheit. Ich versuche zu schlafen, aber schrecke alle paar Minuten aus Bildern hoch, die der Wirklichkeit immer näher kommen.

Geträumt von einem Angriff. Der Bauernhof wird überfallen. Nicht von Fremden, sondern von Menschen, die ich seit meiner Kindheit kenne. Sie haben automatische Schusswaffen und spielen Krieg. In ihrer Euphorie eskaliert die Gewalt. Eine Frau ist an meiner Seite. Ich kenne sie nicht, aber weiß, dass ich sie liebe. Wir verstecken uns im Hühnerstall. Die Aufregung ist groß. Das Warten auf das unausweichliche Ende wird unerträglich. Ich möchte die Frau neben mir küssen, aber sie weicht zurück. Sie hält es nicht mehr aus, verlässt unser Versteck und stellt sich der Gefahr, während ich ...

Worüber trauere ich?

Ich schreibe alles auf: jedes Jucken, jedes Gefühl von Unwohlsein, all die dunklen Gedanken. Die Lunge ist der Sitz der Trauer, lese ich. Worüber trauere ich? Niemand, der mir nahesteht, ist gestorben. Seit einer Weile hat mich niemand mehr verlassen. Trage ich den Lebensüberdruss in mir, oder bin ich einfach Melancholiker bei gleichzeitiger Überlustigkeit als Kompensation?

Warten. Warten. Warten. Ein Nebel aus Gerüchen und dumpfen Tönen, die nicht zu ignorieren sind. Das Aufschlagen der Zeitungen. Leise Kommentare. Am schlimmsten Paare. Ihr geflüstertes Gerede ist lauter als jeder Schrei. Wie Kinder artikulieren sie alles, was sie sehen und denken. Selbst der gesündeste Mensch bricht irgendwann in der Folter des Wartens.

Ich darf die Medikation auf drei Pillen reduzieren. Zwei Tage später erwache ich mit einem Stechen in der Brust und einem Ausschlag am Rücken. Mein Herz pocht schwer. Entfaltet sich nun der ganze Nebenwirkungsschwall? Oder? ... bevor ich das Schlimmste befürchte, sehe ich lieber den eingebildeten Kranken in mir.

Vor dem Spiegel drehe ich mich auf die Seite. Mein Nacken ist durch die Wassereinlagerungen einem Buckel gewichen. Physiognomiestatus: Quasimodo. Wann genau ist das passiert? Ständig greife ich mir ins Gesicht. Meine Wangen spannen. Um zu den Backenknochen zu gelangen, muss ich einen Polster eindrücken. Ich blicke zu meinem Mondgesicht, aber die Gezeiten wirken nicht auf mich. Alles, was ich an meinem Körper als Ich bezeichnet habe, verschwindet. Den Menschen, der ich war, fühle ich nicht mehr, und ich kann die rasenden Veränderungen sehen. Da ist nur noch eine Hülle, in der das Feuer brennt und brennt und brennt ...

Vielleicht muss ich mein geändertes Äußeres als Möglichkeit sehen? Male mich weiß an und bewerbe mich als das Maskottchen eines französischen Reifenherstellers? Starte eine Rund-und-g’sund-Kolumne? Schreibe ein Tagebuch über meine Krankheit mit dem Titel: Morbus Boeck und das Cortison-Monster-Ich? Galgenhumor ist eines der ersten Dinge, die man am Friedhof als Überlebenswerkzeug lernt.

Die fünfte Computertomografie in sechs Monaten. Bald brauche ich zum Lesen keine Nachtlampe mehr. Aufgrund der neuen Aufnahmen soll ich weiterhin das Cortison nehmen, sagt der Lungenarzt und fragt, wie ich mich fühle? "Aufgeschwemmt wie eine Wasserleiche", antworte ich nicht ohne Ironie, und als ich merke, dass mein Gegenüber zu lachen beginnt, steigere ich mich in einen lustvollen Leidensmonolog hinein, als hätte ich die Pflicht, ihn damit zu unterhalten.

Ständig werden mir Adressen von Alternativmedizinern zugesteckt. Es muss andere Behandlungsmethoden geben, bekomme ich gesagt. Ich habe eine Diagnose für eine Krankheit, die mich erst in der Behandlung krankmacht. Das Paradox meines Lebens und Schreibens vielleicht.

Die Pointe eines Bernhard-Komplexes

Noch immer akzeptiere ich die Krankheit nicht, sehe sie bloß als Teil einer Geschichte oder als eine wirklich schlechte Pointe meines Bernhard-Komplexes. Ich dachte, ich müsste nur die Zeichen richtig deuten, und schon könnte ich mir einen hübschen dramaturgischen Bogen bis zur Erlösung schaffen – diese klassische Heldengeschichte, in der der Protagonist nach dem Tiefpunkt endlich seine Bestimmung findet, in einer motivierenden Montage, mit 80er-Musik unterlegt, sich selbst aus de Sumpf reißt und schließlich den Endgegner besiegt. Aber das Gegenteil ist der Fall. Statt mich loszuschreiben, wecke ich den Dämon in mir. Nichts besänftigt mehr die Raserei, und ich verliere die Dickhäutigkeit gegenüber der Welt. Jeder negative Gedanke, jeder negative Eindruck schlägt mit voller Wucht auf mich ein.

Ich verkrieche mich in meinem Schreibzimmer und verlasse das Haus nur noch, wenn eine Beerdigung ansteht. Niemand soll mein Gesicht sehen, das nicht mehr meines ist. So tief wie möglich ziehe ich die schwarze Kappe hinunter, doch die Blicke und Gedanken der Leute werden für mich unüberhörbar: "Ganz schön lässt er sich gehen!" – "Bald der Nächste im Holzpyjama ..."

Das Kind fühlt sich unsterblich. In aller Naivität ist es mitten im Leben, ohne an ein Davor oder Danach zu denken. Die eigene Sterblichkeit: eine Fantasie des Spiels. Der Tod: etwas, das jederzeit rückgängig gemacht werden kann. Begräbnis um Begräbnis zieht an mir vorbei, und ich denke mich im Auge des Sturms unendlich.

Mit 15 Jahren hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, nicht alt zu werden. Es begann eine Rastlosigkeit in mir, die sich seither nicht mehr einstellte. Jedes Mal, wenn ich den Stift ansetze, schreibe ich, als wären es meine letzten Worte. Satz für Satz ringe ich um Nüchternheit, während ich im Pathos ersticke. Ich weiß, mir bleibt keine Zeit für Fiktion, und ich muss das Leben beschreiben, wie es ist.

Habe ich das Spiel zu weit geführt und mich durch dieses Totengräbergehabe und den Bernhardwahn selbst krank gemacht? Oder verhält es sich genau anders herum? Irgendetwas in mir wusste bereits, dass diese Krankheit in meinem Körper schlummert, und deshalb fühle ich mich in allen Dingen dem Tod so nah. Die Neugier des Kindes hat mich nie verlassen. "Seine lebenslange Krankheit hat ihn herausgehoben, seinen stets fehlenden Atem hat er festschreiben müssen … solange ich spreche, bin ich … so hat die Erfahrung des zu wenig Luft Kriegens den wüsten Atem des Sprechers erzeugt", hat Elfriede Jelinek nach Bernhards Tod geschrieben.

Mario Schlembach,geb. 1985, ist Autor und Totengräber. Sein Studium an der Universität Wien beendete er mit der Studie: "Die Ursache bin ich selbst. Zur Inszenierung eines Autors. Thomas Bernhard."
Foto: Heribert Corn

Ich schreibe und schreibe, aber finde keinen Weg, die Krankheit wegzuschreiben. Durch die Medikation lichten sich die Schatten, doch werden sie nie ganz verschwinden. Sie sind jetzt in jedem Atemzug unheilbarer Teil von mir; kämpfe nicht mehr dagegen an.

"Mario", höre ich eine Frauenstimme flüstern, und ich schrecke aus unruhigen Träumen hoch. Das Zimmer ist finster. "Ja?", sage ich in die dunkle Ecke, in der ich eine Gestalt vermute. Keine Antwort mehr. "Gibt es nichts, was ich sonst noch machen könnte? Irgendwas?", frage ich den Lungenarzt. "Leben Sie. Atmen Sie. Verlassen Sie ab und zu Ihren Kopf, und vor allem: Bewegen Sie sich. Wenn wir uns nicht bewegen, sind wir tot", sagt er mit einem Lächeln, und ich denke: "Das wären ziemlich blöde Worte für ein Ende."(Mario Schlembach, 13.9.2020)