Schulstart-Montag, später Vormittag. Die erste Taferlklassleraufregung ist vorbei, die Schultüten sind wieder auf dem Weg nach Hause. Entspannte Ruhe in der Ganztagsvolksschule Novaragasse im zweiten Wiener Gemeindebezirk. Vieles ist anders in diesem Schuljahr. Zum einen die geänderten Umstände durch das Coronavirus, zum anderen ist die Schule selbst größer geworden. Letzteres ist einer der Gründe, warum Direktorin Elisabeth Kugler so entspannt ist. "Vielen anderen Schulen fehlt die Ausweichmöglichkeit im Freien, wenn man mit den Kindern turnen oder singen will." Hier ist beides auch bei gelber Ampelphase möglich, denn die Schule hat einen neuen Freibereich bekommen. Gut gelüftet, mit einem salopp-einfachen Tarnnetz gegen die Sonne geschützt, über den Dächern der Leopoldstadt. "Auch für das Lehrerteam ist das toll", sagt Kugler.

Fun im Freien, oben und unten: Dachterrasse...
Foto: Hertha Hurnaus

Von der Straße ist die Terrasse kaum zu erkennen, überhaupt ist die Schulerweiterung, die in eine Baulücke neben dem alten Schulhaus eingepasst wurde, angenehm dezent: milchkaffeebraune Steinfassade, gerahmte Fensterbänder, bündig mit den Alt-Wiener Straßenfronten. Nur das Erdgeschoß stellt eine Ausnahme dar, denn es ist komplett frei gehalten, lässt Blick und Weg in den Hof dahinter frei. Dazwischen: ein wetter geschützter Ballsportplatz. "Eigentlich sah die Auslobung im Wettbewerb einen Ballkäfig auf dem Dach vor, doch das schien uns nicht sinnvoll – auch wegen der Nachbarn", erklärt Architektin Christine Diethör vom Büro Raumkunst, das bereits Erfahrung bei mehreren Schulbauten gesammelt hat.

Eine Schule mit zehn Klassenräumen, Turnsaal, Speisesaal, Bibliothek und Nebenräumen in ein dichtbebautes Stadtviertel zu zwängen war Millimeterarbeit, sagt Diethör. Trotzdem wirkt es ungezwungen, und im Inneren blieb Platz für die Mufus, wie die Multifunktionsbereiche vor den Klassen im Wiener Bildungsfachjargon genannt werden. Woher die Raumnot in einem ohnehin schon vollen Gebiet kommt? "Einerseits durch Zuwanderung, andererseits auch durch die vielen Dachausbauten", erklärt Direktorin Elisabeth Kugler.

...und Ballspielplatz in der Ganztagsvolksschule Novaragasse vom Büro Raumkunst.
Foto: Hertha Hurnaus

Auf engstem Raum

Die Schule Novaragasse ist nicht das einzige Beispiel für Schulerweiterungen auf engstem Raum – auch wenn sie neben den spektakulären Bildungscampus-Bauten in den großen Stadterweiterungsgebieten leicht übersehen werden. Bei der Stadt Wien bestätigt man die Gründe für den innerstädtischen Platzbedarf: Aufstockungen, Abrisse und Neubauten, Zuzug. "Für die Bezirke vier bis acht ergibt sich beispiels weise ein zusätzlicher Bedarf an rund 30 Volksschulklassen für die Jahre 2018 bis 2028. Die 2019 fertiggestellte Schulerweiterung in der Mittelgasse deckt bereits einen Teil des Zusatzbedarfs ab", heißt es aus dem Büro von Schulstadtrat Jürgen Czernohorszky. Das innovative Clustersystem, wie es bei den Bildungscampussen zum Einsatz kommt, ließe sich dabei nicht immer umsetzen, dies hänge von der konkreten Situation vor Ort ab. Platzreserven gebe es jedenfalls noch, unter anderem durch die Übersiedlung von Berufsschulen an den Stadtrand, deren Räume dann durch Volks- und Mittelschulen genutzt werden können.

Lernluxus, innen und außen: Ganztagsvolksschule...
Foto: Hertha Hurnaus

Für Architekten ist die Millimeterarbeit, ein komplexes Bildungsprogramm auf engem Raum unterzubringen, eine willkommene Herausforderung. Eine zweite Schule, die diesen Montag eröffnet wurde, zeigt dies in größerem Maßstab – und auch hier wurde reichlich Freiraum auf dem Dach bereitgestellt. Ganztagsvolksschule und erweiterte Berufsschule an der Längenfeldgasse ergänzen den bestehenden Schulschwerpunkt in Meidling.

Auf bis zu sechs Geschoßen finden hier rund 750 Kinder und Jugendliche Platz, die ebenfalls schulerfahrenen PPAG Architects haben aus dem Raumprogramm eine Art Mini-Manhattan geformt: In den unteren beiden Geschoßen breitet sich die Volksschule aus, darüber türmt sich die Berufsschule, die Fassade aus perforiertem Blech, hinter dem eine Folie swimmingpoolblau schimmert, betont die Vertikale noch zusätzlich. Selbst die Fluchttreppen werden zum Erlebnis: ganz oben ein dramatischer Titanic-Balkon, zum Garten hin umspielt von zwei Spaßrutschen.

Öffentlicher Luxus

...und Berufsschule Längenfeld gasse von PPAG Architects.
Foto: Hertha Hurnaus

Im Inneren ist die Millimeterarbeit nicht zu spüren, alles wirkt größer als von außen: Räume fließen ineinander, Lichthöfe und freundlich-pastellige Eissalonfarben, Durchblicke auf Bäume und benachbarte Gemeindebauten. Dazu Parkettboden, teils maßgefertigte Möbel, sogar die genormten Feuerlöschkästen sind blau und rosa.

Räumliche Großzügigkeit und viele Details: ein Zeichen, dass sich die Wiener Bildungsoffensive, die vor einer Dekade das noch aus dem 19. Jahrhundert stammende System der Gangschulen mit Normklassenzimmern über Bord geworfen hat, experimentierfreudig zeigt und sich immer weiter optimiert, wie PPAG-Architekt Georg Poduschka lobend anmerkt.

Sechster Stock, Klassenraum, Fenster auf drei Seiten. Tische und Computer warten auf Berufsschüler, die hier spielerisch Business und Politik lernen werden. Der Panoramablick schweift vom Wienerberg über den Steinhof bis zum Stephansdom. Wäre dies ein Penthouse, würden die Millionenkassen klingeln. Aber Ausblick, Lage und Höhe sind hier ausnahmsweise kein privater Luxus, sondern ein öffentlicher. "Wir sind überzeugt, dass das auch für Kinder aus bildungsfernen Schichten Ermutigung und ein Empowerment bedeutet", sagt Anna Popelka. Gut möglich, denn wer hier "Firma" spielt, tut dies auf Augenhöhe mit den Vorstandsetagen. Eine Dachterrasse als Freiraum mit Luft nach oben. Eine Schule, die auf die Stadt deutet und sagt: "Das, mein Kind, könnte eines Tages dir gehören." (Maik Novotny, 13.9.2020)