Er war das Schreckgespenst des bürgerlichen Wien. Von 1986 bis 1999 sorgte Claus Peymann als Burgtheaterdirektor für Zoff und Skandale. Jetzt inszeniert der 83-Jährige noch einmal in Wien – und zwar die Dramolette Der deutsche Mittagstisch von Thomas Bernhard am Theater in der Josefstadt. An jenem Theater also, das er einst als "die beste Schnarchstätte Wiens" bezeichnet hat. Wir trafen den nach langer Krankheit Genesenen im Malersaal der Josefstadt.

STANDARD: Sie haben eine schwere Zeit hinter sich, schwebten zwischen Leben und Tod. Wie verändert sich da der Blick aufs Leben?

Peymann: Spurlos geht das nicht an einem vorbei. Aber dass ich hier vor Ihnen sitze, zeigt, dass man an Wunder glauben muss. Die hab ich im Theater ständig erlebt, warum nicht auch mal im Leben?

STANDARD: Ein Zitat von Thomas Bernhard lautet: "Es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt." Sind Sie milder geworden?

Peymann: Ich habe das Theater immer für unverzichtbar gehalten, als Teil der menschlichen Psyche – nicht nur meiner eigenen. Ich hasse Opportunismus und falsche Milde. Das Theater muss der Politik auf die Finger schauen. Hier in Österreich habe ich dafür ein weites Feld vorgefunden.

Claus Peymann im Video-Interview.
DER STANDARD

STANDARD: Inwiefern?

Peymann: Als wir 1986 hergekommen sind, war Wien verzopft, die Theater waren im Dornröschenschlaf und fest in großbürgerlicher Hand. Als ich Ermäßigungen für Studenten einführte, rümpften viele die Nase. Aber ich hatte eine tolle Truppe von Schauspielern, Dramaturgen, Bühnenbildnern um mich herum. Vor allem aber hatte ich einen entscheidenden Weggefährten, das war Thomas Bernhard. Wir haben nicht nur versucht, die Burg für ein neues Publikum zu öffnen, wir haben sie auch für österreichische Dichter geöffnet. Und siehe da, wir waren erfolgreich.

STANDARD: Wie viel vom Theaterschreck steckt noch in Ihnen?

Peymann: Ich bin nicht mehr der Peymann von damals. Nicht mehr der zornige Piefke. Wahrscheinlich wäre ich heute ein fürchterlicher Burgtheaterdirektor, weil ich genau weiß, wie man das Haus führt. Wie man Küsse verteilt, die in Wirklichkeit Bisse sind ...

STANDARD: Josefstadt-Direktor Herbert Föttinger war der Theaterdirektor, der am lautesten gegen den Corona-Kulturstillstand protestierte …

Peymann: Zumindest einer, der nicht auf Urlaub in der Toskana war …

STANDARD: Ist er der neue Peymann?

Peymann: Mich gibt’s nur einmal, Gott sei Dank! (lacht) Föttinger macht seinen Job gut, weiß, was Theater ist, und er stellt sich vor seine Truppe. Hier an der Josefstadt hat sich in den letzten Wochen ein kleines Bernhard-Ensemble gebildet, das ist auch sein Verdienst.

Claus Peymann will es noch einmal wissen: Kommenden Donnerstag hat an der Josefstadt seine Inszenierung von Bernhards "Der deutsche Mittagstisch" Premiere.
Foto: Heribert Corn

STANDARD: Sie brennen fürs Theater. Aber Sie sind 83 und gehören zur Hochrisikogruppe. So einfach ist die Situation nicht.

Peymann: Reden Sie von dieser neuen Pest? Oder meinen Sie die Schwäche des Theaters und den Opportunismus der Theaterdirektoren? Nirgends werden die Regeln so krass ausgelegt wie im Theater. Im Theater halten alle Abstand, zum Theater aber fährt man mit der vollbesetzten Tram. Ich solidarisiere mich nicht mit den Demonstranten in Berlin oder sonst wo, die die ganze Demokratie infrage stellen, das ist Quatsch. Im Moment sind alle vorsichtig. Aber Theater kann nie vorsichtig sein, wir riskieren immer alles.

STANDARD: Es geht um unsere Gesundheit.

Peymann: Ich kenne selbst auch kein Wunderrezept. Ich habe die Quarantäne in meinem Häuschen in Köpenick verbracht und Kartoffeln gepflanzt. Aber die Wildschweine haben meinen Kartoffelacker überfallen und die Vorräte aufgefuttert.

STANDARD: Das klingt resigniert.

Peymann: Ich bin ein alter Mann geworden, Theaterdirektor a. D.! Wenn ich noch ein Theater hätte, dann hätte ich sicher einiges probiert.

STANDARD: Kränkt es Sie, dass Sie Burgtheater-Direktor Martin Kušej nicht gefragt hat, an seinem Haus zu inszenieren?

Peymann: Vielleicht hat er Angst vor mir? Das erlebe ich öfter, fragen Sie mich nicht, warum. Das Geheimnis eines guten Theaterdirektors ist, dass er Konkurrenz zulässt. Ich wollte immer die Besten haben. Es geht um das Wohl des lebendigen Theaters, um das Glück der Zuschauer, nicht um die eigenen Eitelkeiten.

STANDARD: Kann die Burg heute überhaupt noch den Stellenwert von früher haben? Das Theatersystem ist ein ganz anderes.

Peymann: An Systeme glaube ich nicht. Wenn unser Stück am 17. September hier in der Josefstadt Premiere hat, dann ist hier der Mittelpunkt der Welt.

STANDARD: In Berlin haben Sie es nicht geschafft, im Mittelpunkt zu stehen.

Peymann: Das liegt an der Präpotenz der Berliner, die wissen alles und lachen über nichts. Der Wiener weiß alles, kennt alles, aber regt sich vor allem erst einmal über alles auf. Dass Wien nach wie vor eine Theaterstadt ist, steht außer Frage. Wenn ich in der Josefstadt die 100 Meter zur Probe gehe, springen Radfahrer von ihren Radln, Autos halten. Da könnte man leicht größenwahnsinnig werden!

STANDARD: Ihr Name ist untrennbar mit jenem Bernhards verbunden. Jetzt inszenieren Sie ihn wieder. Reicht’s Ihnen nicht irgendwann?

Peymann: In keiner Weise. Ich bin immer wieder fasziniert von Bernhards fantastischer, genauer Sprache, von seinem visionären Blick. Diese kleinen Stücke sind so böse, so witzig, so gemein, so tödlich und gehässig. Gleichzeitig so fröhlich und so weitsichtig.

STANDARD: Der bekannteste Satz aus dem "Deutschen Mittagstisch" lautet: "In jeder Suppe ein Nazi." Klingt das nicht arg nostalgisch?

Peymann: Wovon reden Sie denn?!? Es ist doch alles noch schlimmer geworden, als Bernhard es sich erträumt hätte. Die österreichische Wirklichkeit, die Politik liefert das Forum für diese Dramolette. Wir können die gar nicht so schnell inszenieren, wie die Nazis in Österreich hochkommen. Das ist in Deutschland, Frankreich oder Ungarn genauso. Überall wachsen die Nazis aus dem Boden. Die Stücke sind prophetisch.

STANDARD: Hat sich das Gesicht des Faschismus nicht verändert?

Peymann: Es brennen Häuser, es werden Nazifahnen herumgetragen, wir lassen zu, dass im Mittelmeer täglich Menschen ertrinken, und man hat sogar versucht, das Parlament in Berlin zu stürmen. Ich gehöre noch zur Kriegsgeneration: Auf eine schreckliche Weise kehrt alles wieder. Bernhard hat das vorausgesehen. Letzten Sonntag war ich an seinem Grab, wir haben Zwiesprache gehalten.

STANDARD: Was haben Sie sich erzählt?

Peymann: Das sage ich Ihnen auf keinen Fall.

(Stephan Hilpold, 13.9.2020)