(Zukunft. Ein Gymnasium in Frankfurt. In den Bänken, vor aufgeschlagenen Heften, die SchülerInnen Walser, Geiger, Hermann, Magnusson, Bonne, Bossong und andere. Hinter dem Katheder der Deutschprofessor Hückstädt.)

HÜCKSTÄDT: Ich lese euch jetzt den Beginn eines berühmten Theaterstücks vor. Vielleicht habt ihr schon von ihm gehört. Es heißt Faust. Es ist von Johann Goethe.

(Nimmt ein Reclam-Heft und schlägt es auf.)

Faust ist in einem hohen, engen Zimmer. Er rutscht unruhig auf seinem Sessel hin und her. Er seufzt: "Ach!" Er sagt: "Ich habe Philosophie studiert. Ich habe Rechtswissenschaft studiert. Ich habe Medizin studiert. Ich habe leider auch Theologie studiert. Ich war sehr fleißig. Jetzt stehe ich dumm da. Ich weiß nicht mehr als vorher. Ich habe einen Magistertitel. Ich habe einen Doktortitel. Fast zehn Jahre lang habe ich unterrichtet. Jetzt sehe ich, dass wir nichts wissen können. Das macht mich ganz verrückt.

Ich bin zwar gescheiter als all die Angeber. Ich bin gescheiter als die Ärzte, Apotheker, Schriftsteller und Priester. Ich habe keine Gewissensbisse. Ich habe keine Zweifel. Ich fürchte mich nicht vor der Hölle. Ich fürchte mich nicht vor dem Teufel. Aber dafür macht mir nichts mehr Freude.

Ich glaube nicht, dass ich etwas wirklich Wichtiges weiß. Ich glaube nicht, dass ich den Menschen etwas beibringen kann. Ich kann keine besseren Menschen aus ihnen machen. Ich bin auch nicht reich. Ich bin nicht berühmt. Kein Hund möchte so länger leben. Darum habe ich jetzt mit Zauberei angefangen."

(Während er weiterliest, Licht auf die SchülerInnen Geiger und Walser.)

GEIGER: Goethe schreibt unheimlich gut, finde ich.

WALSER: Ja. Leider ein bisschen schwierig.

GEIGER: Leider. Aber vielleicht können wir Herrn Professor Hückstädt bitten, dass er den Text in ganz einfache Sprache übersetzt.

(Licht wieder auf Hückstädt. Er legt das Reclam-Heft weg.)

HÜCKSTÄDT: So, genug für heute. Der Text ist doch sehr anspruchsvoll. Ich will euch nicht überfordern. Außerdem war bis heute die erste Strophe eines Gedichts auswendig zu lernen, wisst ihr noch? Es heißt "Die Bürgschaft" und ist von Friedrich Schiller. Wer beginnt? Magnusson?

MAGNUSSON (steht auf): Die Bürgschaft. Von Friedrich Schiller. Dionysius war ein Tyrann. Damon schlich zu ihm. Er hatte einen Dolch bei sich. Der Sicherheitsdienst verhaftete ihn. Der Tyrann sah ihn finster an. Er sagte: "Was wolltest du mit dem Dolch?". Damon sagte: "Ich wollte die Stadt vom Tyrannen befreien." Dionysius sagte: "Dafür wirst du gekreuzigt."

(Setzt sich. Vorhang)
(Antonio Fian, 11.9.2020)