Unsterblich und zeitlos alternd: Pippi Langstrumpf (Ende der 1960er-Jahre dargestellt von Inger Nilsson) und ihr Äffchen Herr Nilsson.

Foto: imago

In den Büchern kommt Fräulein Prysselius alias Prusseliese gar nicht vor. In den diversen Kinofilmen und der erstmals 1971 im deutschsprachigen Raum ausgestrahlten Fernsehserie sehr wohl. Wenn man dann ungefähr zur selben Zeit tagtäglich in der Volksschule eine reale Prusseliese als Lehrerin vor sich sitzen hatte, begeisterte man sich als kleiner Lauser umso mehr dafür, dass die moralinsaure Urschel von Pippi Langstrumpf immer ordentlich eingeschenkt bekam. Ganz wichtig dabei, immer mit Humor. Man darf im Leben alles, aber eines ganz sicher nie, das Leben ernst nehmen. Das trifft übrigens auch auf die zart vertrottelten, aber dann eigentlich eh urlieben Dorfpolizisten zu.

Heute nimmt man ja auf Social Media diesen ewigen moralischen Zeigefinger und die Sprache der Vernunft oder die guten Sitten in Gestalt verhärmter Zeitgenossen als tägliche Belästigung kaum noch wahr. Damals war die Revolte der Pippi Langstrumpf gegen alles, was Recht und in der Ordnung ist, für einen neunjährigen Buben eine wohltuende Bestätigung.

123nami

Mögen die Erwachsenen auch noch so sehr in ihrem Vorschriftsdenken, in ihrem Machbarkeitspragmatismus und in ihrem Verhaltenskodex gefangen sein: Das Kind im Mann (oder auch der Mann im Kind) muss dieser grauen und beigen und fliederfarbenen Welt der Großen etwas entgegenhalten:

"2 mal 3 macht 4, widdewiddewitt, und Drei macht Neune! Ich mach’ mir die Welt, widdewidde wie sie mir gefällt ... Hey, Pippi Langstrumpf, trallari, trallahey, tralla hoppsassa. Hey, Pippi Langstrumpf, die macht, was ihr gefällt."

Anarchie für immer

Pippi Langstrumpf wird jetzt am 13. September 75 Jahre alt. Sie würde heute als altersweise Greisin wahrscheinlich den gutgemeinten, allerdings meist das Gegenteil bewirkenden Ratschlägen von Fräulein Prysselius vielleicht öfters folgen. Andererseits: nein, auf keinen Fall! Das ewig neun Jahre alt bleibende Anarcho-Kind, das der Welt frech entgegengrinst, wird und muss immer die Oberhand behalten. In unser aller Namen.

Immerhin hat man als stärkstes Mädchen der Welt auch royales Blut in sich fließen. Der Herr Rabenvater ist immerhin König. Sprachlich vor einiger Zeit erfolgreich einer politischen Korrektur unterzogen, firmiert er heute unter "Südseekönig". Im der heutigen Weltjugend nicht mehr zumutbaren Original wurde noch das N-Wort bemüht.

In der Villa Kunterbunt

Kinderbuchautorin Astrid Lindgren als Pippis Mutter gebar ihr neben dem Michel aus Lönneberga erfolgreichstes und wirkungsmächtigstes Kind damals im Spätsommer 1945. Nachdem Pippi als narrische Wurzn und gesetzlose Halbwaise mit einem Koffer voller Geld von mehreren Verlagen abgelehnt worden war, konnten die schließlich drei Bände umfassenden Geschichten rund um die Villa Kunterbunt und später aus der hauptsächlich von weißen männlichen Piraten bevölkerten Südsee doch noch veröffentlicht werden.

Übersetzungen in 77 Sprachen bei geschätzten 70 Millionen verkauften Exemplaren machen Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminz Efraimstochter Langstrumpf und ihren Hofstaat Tommy und Annika, das Äffchen Herr Nilsson und den schwarzgepunkteten Schimmel namens Pferd (alias Kleiner Onkel) zu einem der wenigen tatsächlichen Klassiker der Kinderliteratur.

Die Filme und die Fernsehserie sorgten ab 1969 mit Hauptdarstellerin Inger Nilsson für einen zusätzlichen Verkaufsschub. Vielleicht lag es auch im Zeittrend. Immerhin machte man sich gerade mit der Antibabypille, lustigen Freizeitdrogen und kunterbuntem Popzeug aus Übersee etwas locker. Man konnte also auch noch als Erwachsener verstehen, dass ein fröhliches und nur von der eigenen Vorstellungskraft geleitetes Kind durch die Welt stapfte und, widdewiddewitt, machte, wie es ihm gefiel.

Kind bleiben mit Zauberpille

Aus heutiger Sicht würde man sagen, dass es sich bei Pippi um eine Berufsjugendliche mit einem Drogenproblem handelt. Immerhin wirft sie mit ihren zwei gleichaltrigen, leider erheblich feigen und verklemmten Spießerfreunden Tommy und Annika auch eine "Zauberpille" ein. Sie nennt sich "Krummelus" und hilft gegen das Erwachsenwerden. Dazu muss man autobiografisch sagen, ja, mit solchen Leuten bin ich früher auch in die Schule gegangen. Und: Ich kenne auch heute noch einige. Insofern schon wieder: Pippi ist zeitlos!

Worüber wir noch reden müssen: Die zwei besten Figuren in dieser kunterbunten Welt sind die zwei Piraten aus Pippi in Taka-Tuka-Land, Messer-Jocke und Blut-Svente. Das sind die liebsten Schurken der Literaturgeschichte. Sie sind sogar zu blöd, um böse zu sein. Pippis Vater Efraim Langstrumpf ist leider ein verweichlichter Jammerlappen. Aber wirklich männerfreundlich hat Astrid Lindgren ihre Bücher eh nie angelegt. (Christian Schachinger, 13.9.2020)