Wien – Wenn in Wien Wahlen anstehen, dann darf eines vorausgesetzt werden: Der Gemeindebau und seine Bewohnerinnen und Bewohner werden zum Wahlkampfthema.

Frau Chytil ist deshalb auch nicht weiter verwundert, als man sie bittet, doch ein wenig über das Leben im Gemeindebau zu erzählen. Seit mehr als 40 Jahren wohnt die Wienerin im Winarskyhof, einem 1924 errichteten Gemeindebau mit 558 Wohnungen. Das Gespräch findet im Innenhof statt – in "ihrem" Innenhof. Hier kennt sie jeden, jeder kennt sie. "Natürlich hat sich viel verändert", sagt die Pensionistin. "Aber ich würde sagen: zum Positiven."

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Aus blauer wird türkise Forderung

Obwohl der Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund in den Bauten gestiegen ist? Frau Chytil weiß, worauf die Frage abzielt. "Ja, obwohl viele Ausländer da sind. Wir halten zusammen, organisieren Feste, grillen gemeinsam. Wenn jemand krank ist, helfen wir." Woher jemand kommt, tue dabei wenig zur Sache. "Muss ich mich jetzt echt zum Herrn Blümel äußern?", fragt sie. "Na, bitte ned. Bitte!" Frau Chytil blickt zu ihren Füßen, wo Hund Max sitzt. "Beiss! Fass!", ruft sie ihm zu und lacht dann laut. Sie meine es natürlich nicht so. Aber gut finde sie die Idee von Gernot Blümel jedenfalls nicht. "Das ist mein Kommentar zu der ganzen Sache."

Frau Chytil in "ihrem" Hof mit Hund Max und einer Nachbarin. Das Leben im Gemeindebau habe sich verändert, aber zum Positiven, sagt die Wienerin.
Foto: Heribert Corn

Die "Sache" ist die: Gernot Blümel, Finanzminister und Spitzenkandidat der ÖVP bei der Wahl in Wien in einem Monat, will Gemeindewohnungen künftig nur noch an jene Menschen vergeben, die gut genug Deutsch sprechen. Neu ist an dieser Forderung einzig, dass sie diesmal von den Türkisen kommt. Schon vor knapp zehn Jahren brachte Johann Gudenus, damals FPÖ-Klubobmann, eine dringliche Anfrage dazu im Gemeinderat ein. Egal ob einst oder 2020: Blümel und Gudenus eint die Meinung, Integration sei nur mit Deutschpflicht möglich, Sprachdifferenzen würden Konflikte im Gemeindebau befeuern.

Warum der Gemeindebau in den Fokus rückt

Diskutiert wird über das Zusammenleben von knapp 500.000 Menschen. Ein Viertel aller Wiener Wahlberechtigten wohnt in Anlagen wie dem Schöpfwerk, Karl-Marx-Hof, Viktor- Adler-Hof oder der Rennbahnsiedlung. Der Wiener Gemeindebau ist eine Besonderheit, in Österreich und in Europa. Nirgendwo besitzt und verwaltet eine Stadt so viele Wohnungen (230.000), jedes vierte Gebäude gehört der Gemeinde. Deswegen zielt die Frage, wer eine günstige Gemeindewohnung bekommt, nicht nur auf die dortigen Bewohner als potenzielle Wählergruppe ab, sondern auch auf die anderen Wienerinnen und Wiener. Schließlich fließt ihr Steuergeld in das Herzensprojekt der Wiener Sozialdemokratie.

Eine halbe Million Menschen wohnen in Wien in Gemeindebauten. Steht ein Wahlkampf an, werden sie regelmäßig thematisiert.
Foto: Corn

Ein kleiner Streifzug durch die Gemeindebauten zeigt: Die in Integrationsfragen ziemlich entspannte Frau Chytil ist eine Ausnahme. Denn vor allem bei älteren Bewohnern stößt die Forderung nach einer Deutschpflicht für Gemeindebaubewohner auf offene Ohren. Dennoch ist der Zuspruch nicht so groß, als dass er bei den meisten am 11. Oktober für ein Kreuz bei der ÖVP sorgen würde.

"Ich bin nicht ausländerfeindlich, aber ich verstehe, wenn man es wird", sagt eine 84-jährige Bewohnerin des Karl-Volkert-Hofs in Ottakring, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will. Seit beinahe 50 Jahren bewohnt sie eine der 228 Wohnungen. Früher sei alles besser gewesen. "Es ist wirklich schlimm hier", sagt die Frau, die locker zehn Jahre jünger wirkt und mit einer Nachbarin gerade auf dem Weg zum Schweinsbratenessen ist.

Wer im Hof das Sagen hat

"Wir sind hier in der Unterzahl. Viele Alteingesessene sind schon weggestorben. Jetzt wohnen hier fast nur noch Sozialfälle. Und die streiten beinahe jeden Tag untereinander." Ihre Begleiterin pflichtet ihr bei. "Weißt noch? Die Blauensteiner! Die hat sich einlassen mit denen. Und dann hats draufzahlt." Wer konkret mit "denen" gemeint ist? "Die Islamer", sagt ihre Begleitung, "die haben hier das Sagen."

Eine Deutschpflicht wäre dringend nötig, finden die beiden Freundinnen. "Die Leute grüßen ja nicht einmal mehr." Also wird sie Gernot Blümel mit ihrer Stimme unterstützen? "Nein", sagt die 84-Jährige schnell. "Die SPÖ war es, die nach dem Krieg alles aufgebaut hat. Und jetzt? Natürlich überlegt man, aber ich bleibe meinem Schema treu."

Damit ist sie kein Einzelfall. Nach wie vor wird im Gemeindebau traditionell roter gewählt als im Wien-Durchschnitt. Allerdings ist er auch keine unangefochtene SPÖ-Bastion mehr: In jenen Wahlsprengeln, in denen der Gemeindebauanteil 100 Prozent beträgt, kamen die Roten 2015 auf 44,17 Prozent, die FPÖ auf 43,37.

Die beiden Pensionistinnen spazieren aus dem Karl-Volkert-Hof. Dass hier letztes Jahr ein brutaler Mord geschah, ist an diesem sonnigen Spätsommertag weit weg. Im Innenhof ist es ruhig, die Vögel zwitschern. Die Geschichte kennen natürlich alle hier im Gemeindebau gegenüber der Ottakringer-Brauerei. Tatort war damals eine Wohnung bei Stiege zwei. Die Mieterin wurde als Mittäterin angeklagt, aber dann freigesprochen.

Mord bei Stiege Zwei

"Da drüben war das", sagt ein Herr um die 50, der gerade mit Krücken in den Hof humpelt. Er deutet mit dem Kinn zur Müllinsel. Auch er möchte er seinen Namen nicht nennen, er arbeitet als Bademeister, das darf man schon wissen. Mit besagter Mieterin habe es immer wieder Probleme gegeben, "das war aber eine Österreicherin, keine Ausländerin," fügt er hinzu. "Es gibt hier viele nette Leute. Einige können aber nicht einmal ‚Guten Morgen‘ auf Deutsch sagen. Da hört man dann selbst irgendwann auf zu grüßen." Einer Deutschpflicht kann der Mann etwas abgewinnen. Ob er aber überhaupt zur Wahl gehen wird, das weiß der Wiener noch nicht: "Die haben doch alle nur eine große Klappe", sagt er resigniert und geht.

Frau Jarjetovic wohnt im 16. Bezirk – will dort aber weg. "Schauen Sie sich um. Das ist wie in Istanbul hier", sagt die gebürtige Bosnierin.
Foto: Corn

Die Mieter der Wohnung im Durchgang zwischen den beiden Innenhöfen hätten mit der Forderung durchaus ein Problem. Der Mann, der gerade in der Eingangstüre steht, ruft etwas in die Wohnung. "Ich zu schlecht Deutsch", sagt er und verschwindet. Nach wenigen Sekunden erscheint seine Frau. Die gebürtige Kroatin ist seit zehn Jahren mit dem Mann und einer Tochter in Wien. Das Mädchen geht in der Nähe ins Gymnasium. Von der Blümel-Idee hat sie nicht gehört. "Das wäre nicht gut", sagt sie leise. "Ich kann Deutsch, aber nicht 100 Prozent." Sie und ihr Mann sind arbeitslos. "Ich helfe eigentlich in Küchen. Mit Corona ist es jetzt schwierig." Auf die günstige Wohnung seien sie angewiesen.

"Das ist wie in Istanbul hier"

Das war auch bei Frau Jarjetovic so. Die gebürtige Bosnierin besitzt schon lange die österreichische Staatsbürgerschaft. 35 Jahre hat sie im AKH gearbeitet, nun ist sie in Pension. Lange Zeit lebte sie im neunten Bezirk, ihr Mann sei dort Hausmeister gewesen. "Wir mussten die Wohnung aber verlassen, weil Eigenbedarf angemeldet wurde. Dann wurde mein Mann krank. Wir haben sehr schnell eine Gemeindewohnung bekommen." Zufrieden ist Frau Jarjetovic aber nicht. "Schauen Sie sich um", zeigt sie auf die Thaliastraße. "Das ist wie in Istanbul hier. Wie kann man leben, wenn man die Sprache nicht gut kann?" Also ja zur ÖVP? "Nein. Ich habe immer schon rot gewählt. Die machen das gut."

Bis 2006 hatten nur österreichische Staatsbürger Anrecht auf eine Wohnung. Da das nicht mit der EU-rechtlich verankerten Gleichbehandlung vereinbar war, wurde der Zugang geöffnet. Voraussetzung ist nun zumindest zwei Jahre Hauptwohnsitz in Wien und die Einkommenshöchstgrenzen nicht zu überschreiten – für zwei Personen ist das ein Nettojahreseinkommen von 70.340 Euro. Wie viele Mieter Migrationshintergrund haben, wird von Wiener Wohnen nicht erfasst. Laut einer Erhebung im Wiener Integrationsmonitor ist die Zahl jener ohne Migrationshintergrund zwischen 2007 und 2016 von 53 auf 43 Prozent gesunken.

Die Sache mit dem Müll

Im Winarskyhof im 20. Bezirk redet sich Frau Chytil warm: "Selbstverständlich sollen die Leute Deutsch lernen! Aber dass man davon abhängig macht, ob man eine Wohnung bekommt? Das ist Irrsinn!"

Lena Weinguny stimmt zu. Die 30-jährige Logopädin zog vor neun Jahren als Studentin her. "Eine andere Wohnung hätte ich mir nicht leisten können." Darum gehe es auch bei Menschen mit Migrationshintergrund. "Oft verdienen die ja weniger. In Wien gibt es generell viele Ausländer, da ist es ja logisch, dass auch im Gemeindebau viele wohnen. Die Gesellschaft verändert sich eben", sagt sie trocken.

Lena Weinguny kam als Studentin wegen der günstigen Miete – und blieb. Ihr gefällt es im Winarskyhof. Dass dort viele nicht gut Deutsch sprechen, ist ihr egal.
Foto: Corn

Zwei Höfe weiter sieht das auch eine Wiener Lehrerin so: "Das ist doch diskriminierend." Vier Jahre wohnt sie schon hier. "Es sprechen einige kein gutes Deutsch. Mir ist das egal. Stören tut mich die Müllproblematik."

Da ist sie nicht allein. Während die befragten Mieter den türkisen Vorstoß unterschiedlich bewerten – über den Müll klagen sie alle: Matratzen, Tische, Elektrogeräte. Alles Mögliche würde in den Höfen herumstehen. Den Abtransport müssten dann alle Mieter zahlen. Das sei ein Skandal. Wahlkampfthema wird das aber wohl keines mehr werden. (Lara Hagen, 12.9.2020)