Sie schlafen am Straßenrand, auf den Parkplätzen von Supermärkten und in Olivenhainen. Manche haben sich aus Zweigen einen Unterstand gebastelt. Nach dem katastrophalen Brand im Flüchtlingslager Moria in der Nacht auf Mittwoch sind tausende Menschen, darunter viele Kleinkinder, obdachlos. Durch einen weiteren Brand in der Nacht auf Donnerstag wurden praktisch alle Unterkünfte von etwa 12.000 Menschen zerstört. Die Brände wurden von Migranten gelegt, weil sie die Quarantäneregeln nicht mehr einhalten wollten. Zuvor waren 35 Personen positiv getestet worden.

Wie durch ein Wunder ist niemand ums Leben gekommen, aber die Hitze und der Mangel an Wasser, Toiletten und Schlafplätzen setzen vor allem den vielen Familien mit oft sehr kleinen Kindern zu. Diese Kinder sind im Lager Moria seit Jahren menschenunwürdigen Bedingungen ausgesetzt. Zurzeit können die Eltern ihnen nicht einmal ein schützendes Zeltdach bieten, selbst wenn die Sonne nun auf den Asphalt der Parkplätze brennt.

Hunderte Familien sind nach dem Brand im Lager Moria obdachlos. Die Regierung will neue Zeltlager errichten, die lokale Bevölkerung versucht dies zu verhindern, und die Migranten wollen aufs Festland.
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Die Behörden kämpfen an vielen Fronten. In erster Linie müssen sie eine Grundversorgung für die verstreut campierenden Migranten bereitstellen, zudem Pläne entwerfen, wie man trotz des Chaos die Pandemie eindämmen kann – das Lager Moria stand unter Lockdown. Dazu müssen sie für neue Unterkünfte sorgen und die Leute davon überzeugen, dass sie diese auch beziehen.

406 Minderjährige – viele Jugendliche aus Afghanistan – wurden Mittwochnacht und am Donnerstag unter anderem wegen der Interventionen von EU-Staaten nach Thessaloniki geflogen und in Nordgriechenland untergebracht. Sie wurden zuvor getestet, um sicherzustellen, dass sie nicht mit Covid-19 infiziert sind. Sie bleiben zehn Tage in Quarantäne. Unklar ist, ob diese Jugendlichen einen positiven Asylbescheid haben. Einige EU-Staaten wollen sie jedenfalls aufnehmen.

Umsiedlung nur mit Flüchtlingsstatus

Auf ihre Umsiedlung in andere EU-Staaten warten viele andere in den Camps oder Wohneinheiten auf dem Festland – oft bereits seit etlichen Jahren. Denn umgesiedelt werden dürfen eigentlich nur anerkannte Flüchtlinge mit besonderem Schutzbedarf. All die anderen Migranten, die vor den Flammen in Moria geflüchtet sind, müssen ohnehin auf der Insel bleiben, weil die Gesundheitsbehörden verhindern wollen, dass das Virus weitergetragen wird. Und weil die Regierung keine kontraproduktive Botschaft aussenden will.

Sie möchte tunlichst verhindern, dass viele Migranten glauben, dass auch sie nun aufs Festland gelangen können – und dass das Anzünden von Zelten Schule machen könnte. Am Freitag skandierten tausende Migranten "Lasst uns gehen", nachdem sie sich auf der Straße neben dem Vorzeigelager Kara Tepe, in dem die bedürftigsten Gruppen untergebracht sind, versammelt hatten. Polizeikräfte versuchten, die Leute zurückzuhalten. Einige hielten Schilder in der Hand, auf denen um Hilfe aus Deutschland gebeten wurde.

Gleichzeitig wurden neue Zelte für die obdachlos gewordenen Migranten aufgebaut. Mit Schiffen wurden gepanzerte Fahrzeuge mit Wasserwerfern und Absperrgitter für die Polizei auf die Insel gebracht. Polizeikräfte werden eingeflogen. Die Sorge ist groß, dass die Situation außer Kontrolle gerät.

Denn auch viele Bürger von Lesbos wollen, dass die Flüchtlingslager auf der Insel aufgelöst werden und die Migranten weggebracht werden. Sie wehren sich dagegen, dass neue geschlossene Camps auf der Insel errichtet werden – aus Furcht, dass dies weiterhin Touristen abschrecken könnte. In Athen räumt man ein, dass man sich in dieser Frage bisher nicht durchsetzen konnte.

Weg nach Mitteleuropa versperrt

Die konservativ geführte Regierung steht aber den Mitteleuropäern im Wort. Deshalb sollen die Lager bleiben. Denn die Flüchtlingscamps auf den ägäischen Inseln, in denen Migranten oft monatelang, manchmal jahrelang warten müssen, bis sie überhaupt in ein Asylverfahren eintreten können, dienen auch als Signal der Abschreckung.

Potenziellen Migranten – etwa in Afghanistan – soll vermittelt werden, dass sie im Lager Moria warten werden müssen und dass damit auch der Weg nach Mitteleuropa für Jahre versperrt bleibt.

Pushbacks auf dem Wasser

In den vergangenen Monaten kamen kaum mehr Migranten und Flüchtlinge nach Lesbos, einerseits wegen der Pandemie, andererseits weil die griechische Küstenwache viel mehr Patrouillen durchführt und verhindert, dass Dingis, also Gummiboote, mit Migranten von türkischen in griechische Gewässer gelangen. Immer wieder gibt es Berichte, dass maskierte Männer – offensichtlich von der Küstenwache – die Boote zurückdrängen. Die Situation ähnelt der oft brutalen Zurückweisung von Migranten an der bosnisch-kroatischen Grenze – nur eben auf dem Wasser.

Gerade weil es viel weniger Neuankömmlinge gibt, konnten in den vergangenen Wochen und Monaten tausende Migranten und Flüchtlinge von Lesbos aufs Festland gebracht werden. Im Camp Moria waren zum Zeitpunkt des Brands deshalb kaum mehr unbegleitete Minderjährige, sondern fast nur mehr Familien. Ihr Schicksal bleibt ungewiss. (Adelheid Wölfl, 11.9.2020)