Um 19.29 Uhr schließlich stellt sich die Corona-Kommission selbst infrage: Warum jetzt eine Empfehlung für ganz Österreich formuliert werde, nachdem man fünf Stunden lang einzelne Bezirke eingefärbt hat, fragt eine der Expertinnen. Die Logik dahinter besticht nicht wirklich, stimmt ein anderes Mitglied zu. Acht Minuten später geht das Gremium auseinander. Die Ampel ist geschaltet.

Am nächsten Tag, Freitag 11 Uhr, wird die Bundesregierung offiziell verschärfte Maßnahmen für ganz Österreich verkünden – egal, ob eine Region grün oder gelb ist, es werden überall die gleichen Regeln gelten. In gelben Gebieten können lediglich noch schärfere Maßnahmen verhängt werden, wenn das dort gewünscht wird. Man fragt sich: Wie kam es zu dieser – offenkundig nicht logischen – Entscheidung? Was lief im Hintergrund? Dem STANDARD liegt eine Mitschrift von der Sitzung der Corona-Kommission vom 10. September vor. Eine Rekonstruktion.

In Wien, Graz, Innsbruck, Wiener Neustadt, Korneuburg (NÖ), Kufstein und Schwaz (Tirol) ist die Corona-Ampel auf gelb geschaltet.
Foto: Der Standard

Datengrundlage alt

Das Gremium tritt am Donnerstag um 14 Uhr zusammen. Es besteht aus 19 Mitgliedern: fünf Experten, ein Vertreter aus jedem Bundesland, drei Beamte aus dem Gesundheitsministerium, einer aus dem Innenressort, einer aus dem Kanzleramt. Fünf der Mitglieder sitzen gemeinsam an einem großen Tisch in einem Büro der Gesundheit Österreich GmbH, der Rest ist per Video zugeschaltet. Es beginnt, wie immer, wenn die Kommission zusammentritt: mit der Bitte um Verschwiegenheit. Wie jedes Mal wird das Versprechen später gebrochen.

Zuerst werden Fahrplan und Formalia besprochen. Dann diskutieren die Mitglieder verschiedene Anliegen. Ein Vertreter des Bundeskanzleramts merkt an, dass die Datengrundlage der Kommission immer alt sei. Herangezogen werden jede Woche die Werte vom letztwöchigen Dienstag bis zum dieswöchigen Dienstag. Aber aktuell seien doch vor allem am Mittwoch die Infektionen hochgeschnellt. Das müsse man in die Überlegungen miteinbeziehen, findet der Beamte. Es folgt eine Diskussion über die Aktualität der Daten. Man einigt sich: Anders lässt es sich nicht lösen, wenn man sauber arbeiten möchte.

Am Vormittag berichten Boulevardmedien bereits, wie dramatisch es um die Infektionszahlen in einzelnen Wiener Bezirken steht – die Leopoldstadt, die Josefstadt, die Brigittenau. Die Kommission bewertet die Hauptstadt jedoch nur als Ganzes, darauf hat man sich schon vor längerer Zeit verständigt. In Wien ist die Fluktuation zwischen den Bezirken zu groß, damit lässt sich das nicht einfach eingrenzen. Um 16 Uhr beginnt die Kommission, die Großwetterlage der Länder zu besprechen – um Wien wird es erst viel später gehen.

Vorarlberg erklärt, dass man zwar Cluster habe, das Contact-Tracing aber gut funktioniere. Auch gebe es genügend Spitalsbetten. Tirol vermeldet einen "Somalia-Cluster". Salzburg moniert, dass private Feiern ein Problem sind, was Oberösterreich unterstützt. Mehrere Bundesländer äußern den Wunsch, dass unabhängig von den regionalen Fallzahlen die Maskenpflicht wieder ausgeweitet wird.

Zum ersten kleineren Eklat kommt es um 17.14 Uhr. Da bemerkt einer der Kommissionsleiter zwei Medienberichte, wonach Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) eine Orange-Schaltung Wiens verhindert habe. Doch über die Farbgebung wurde in der Kommission zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht abgestimmt. Anschober ist außerdem auch kein Mitglied der Kommission.

Ärger über Medienberichte

Es herrscht Verärgerung über ständige Medien-Leaks, lange bevor Entscheidungen überhaupt gefallen sind – und es wird die Vermutung geäußert, dass Teile der Kommission oder ihr Umfeld diese teilweise falschen Informationen an Medien spielen. Das wiederum empört einen Beamten.

Dann geht es inhaltlich ans Eingemachte. Einer der beiden Kommissionsleiter stellt zwei Möglichkeiten zur Wahl: Entweder man färbe ganz Österreich gelb – oder nur einzelne Bezirke. Dafür müsse dann die Maskenpflicht überall verschärft werden. Es folgt eine 15-minütige Nachdenkpause.

Als sich alle wieder versammeln, erklärt der Beamte des Bundeskanzleramts, dass eine Erklärung von Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) vorliege. Er würde nun gerne den Kabinettschef von Kurz dazuholen, weil der die Erklärung verlesen möchte. Einer der beiden Kommissionsleiter spricht sich dagegen aus. Lasse man das jetzt zu, würden auch andere Politiker ein Rederecht einfordern. Das sei nicht möglich. Die Kommissionsmitglieder einigen sich darauf, dass man ohne politischen Einfluss arbeiten können muss – ansonsten brauche es die Kommission nicht mehr, wird argumentiert. Das Thema ist damit vom Tisch.

Aber soll nun ganz Österreich gelb werden oder nicht? Der Vertreter des Bundeskanzleramts will kein generelles Gelb, aber Wien auf Orange setzen. Oberösterreich spricht sich dagegen aus, dass Wien orange wird. Der Vertreter des Innenministeriums möchte hingegen nicht, dass ganz Österreich gelb wird, schließlich gebe es zahlreiche Gebiete, die kaum oder gar nicht betroffen seien.

Die Hauptstadt bleibt gelb

Es wird abgestimmt. Österreich insgesamt gelb einfärben? Dafür sprechen sich Wien, Niederösterreich und Oberösterreich aus. Die Kommission entscheidet mit Zweidrittelmehrheit. Der Vorschlag ist somit abgelehnt. Es geht weiter mit der Abstimmung über einzelne Bezirke. Anschließend wird die nahe Zukunft Wiens beschieden: Man verständigt sich darauf, dass die Hauptstadt gelb bleibt.

Schlussendlich sieht die Österreich-Karte aus wie folgt: Wien, Graz, Innsbruck, Korneuburg, Wiener Neustadt, der Bezirk Kufstein und Schwaz in Tirol sind gelb. Der Rest ist grün. Die Regierung wird sich an die Empfehlung der Kommission halten und auch Verschärfungen verkünden. Die neuen Regelungen gelten ab Montag – und wohl zumindest bis kommenden Donnerstag. Dann wird die Corona-Kommission das nächste Mal tagen. (Katharina Mittelstaedt, 11.9.2020)