Davide Romani, der Marketing Direktor für Disney Italien, nimmt den Goldenen Löwen für den besten Film für die Regisseurin Zhao an.

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Das Drama "Nomadland" von Regisseurin Chloé Zhao gewinnt den Goldenen Löwen.

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Frances McDormand als Fern in dem mit dem Hauptpreis prämierten Drama "Nomadland".

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Auch das feierliche Ende kam dieses Jahr nicht ohne Novum aus. Mit Schlapfen und in Jeans nahm Chloé Zhao am Samstagabend ihren Goldenen Löwen entgegen. In der aufgezeichneten Videonachricht war die US-Regisseurin mit chinesischen Wurzeln gemeinsam mit ihrer Hauptdarstellerin Frances McDormand vor einem Wohnmobil zu sehen. Die Dankesgeste hatte einen ähnlichen Tonfall wie der Film: cool und trotzdem verbindlich. "See you down the road!"

Nomadland wurde schon im Vorfeld des Festivals als ein aussichtsreicher Titel für einen Preis gehandelt, praktisch alle wichtigen Herbstfestivals haben ihn ins Programm genommen. In Venedig wurde er am letzten Tag gezeigt. Zhao ist erst die fünfte Frau, die nun den Hauptpreis entgegen nehmen durfte. Die 38-Jährige hat sich mit US-Independent-Filmen wie The Rider einen Namen gemacht, in denen sie mit feinfühligem Realismus an Stereotypen der Westernmythologie kratzte.

Nähe zum Dokumentarischen

Die Nähe zum Dokumentarischen hat sie in ihrem jüngsten Film bewahrt: Mit der großartigen McDormand entschied sie sich zwar erstmals für eine bekannte Schauspielerin, die sich auf Frauenfiguren versteht, die die Hosen anhaben. Die meisten anderen Parts sind jedoch mit "richtigen Menschen" besetzt, mit ausgemusterten Arbeiterinnen und anderen Übergangenen des Spätkapitalismus, die in Trailern leben – modernen Nomaden eben.

Eine davon ist die von McDormand gespielte Fern, eine Frau um die 60, die seit dem Tod ihres Mannes mit ihrem Wohnmobil von einem saisonalen Gelegenheitsjob zum nächsten zieht. Nein, "homeless" sei sie nicht, sagt sie mit der ihr eigenen bestimmten Freundlichkeit, nur "houseless". Wir kommen ihr in jeder Hinsicht nahe: Bis hin zu unziemlichen Momenten am eigenen Klo oder in klirrend kalten Nächten am Parkplatz. Die wackere Fern bleibt der emotionale Anker des Films, schmiegt sich als Figur aber ins Ensemble.

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Nomadland zeigt eine Seite von Amerika, die man im Kino fast nie zu sehen bekommt, obwohl das der Alltag von immer mehr Menschen ist. Man kann diese Working poor in Arbeitsfelder wie eine Amazon-Packstation begleiten oder in Trailer-Parks, in denen die Aussteiger Ersatzgemeinschaften bilden. Anklagend ist der Film trotz seines wachen Auges für die Auswüchse eines maroden Systems nicht. Zhao interessiert sich mehr für die Solidarität, den vielleicht ausgereifteren Sozialsinn am Rande der Gesellschaft.

Zärtlich dringt sie in erzählerischen Miniaturen die Lebensbereiche der Hobos ein. Was den Film dann aber endgültig als großen Wurf erscheinen lässt, ist sein Bewusstsein für zyklische Abfolgen. Wiederholt wird die Vergangenheit zum Bild, sie manifestiert sich in Mammutbäumen genauso wie in den Felsformationen. Zhao malt das Fresko eines Landes im Übergang, eine "frontier" der Auflösung.

Regiepreis an Kurosawa für seien Spionagemelo

Auch die restlichen Auszeichnungen der von Cate Blanchett geleiteten Jury, zu der auch die österreichische Filmemacherin Veronika Franz gehörte, gingen in Ordnung, der engere Kreis der Favoriten wurde gar noch um ein paar Titel erweitert. Überraschend war der Große Preis für Michel Francos Nuevo Orden, dessen unsubtiles Gewaltdrama über einen plötzlich hereinbrechenden Systemumsturz die Kritik gespalten hat.

Der Regiepreis ging an den japanischen Regisseur Kiyoshi Kurosawa, der sich mit Wife of a Spy (Supai no tsuma), einem in den 1940er spielenden Spionagemelodrama mit Hitchcock’schen Falltüren, einmal mehr in einem neuen Genre versucht. Das Ergebnis ist zwar eher solide als berückend, aber immerhin fasziniert die Lust des einstigen Horrorregisseurs, historische Schräglagen im Privaten zu ergründen.

Kein Weg führte an der Britin Vanessa Kirby vorbei, dem gefeiertsten Star des Festvals, die in Pieces of a Woman (Kornél Mundruczó und Kata Wéber) mit viel Sinn für Nuancen eine Frau verkörpert, die ihr Kind kurz nach der Geburt verliert und sich dann nicht aufnötigen lässt, wie sie mit ihrer Trauer umzugehen hat. Eine veritable Entdeckung erhielt den Hauptpreis der Orrizonti-Sektion. Dashte Khamoush (The Waste Land) ist eine elliptisch erzählte Parabel über eine Ziegelfabrik, deren Schwarz-weiß-Travellings wie von Tarkowski inspiriert wirken. Der Tag, in dem vom Inhaber die Schließung verkündet wird, gerät für den Anti-Helden Lotfollah zum "Groundhog day", an dem er seine ganze Lebensgrundlage verliert.

Viel Dankbarkeit für Barbera

Angesichts der kürzeren Vorbereitungszeit und der Bürde, auf manche Filme nicht zugreifen zu können, ist Festivaldirektor Alberto Barbera eine Filmbiennale gelungen, die früheren Ausgaben inhaltlich wenig nachstand. Auch die Organisation war vorbildlich und darf als ein Modell für Ausnahmezeiten gelten. So konnte das Festival einer krisengeschüttelten Branche endlich wieder eine Bühne bescheren: Nicht umsonst war bei der Preisverleihung viel Dankbarkeit zu spüren. Und ein beharrlicher Glaube ans Kino, wie ihn der ebenfalls prämierte philippinische Filmemacher Lav Diaz per Videobotschaft formulierte: "Long live cinema!" (Dominik Kamalzadeh, 13.9.2020)