Frei nach Sophokles: Der siebenköpfige Thomas-Köck-Chor beklagt im Akademietheater die Zustände in Theben.

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Theben, die Heimatstadt des schwellfüßigen Ödipus, hat trotz anhaltenden Wohlstands schon rosigere Zeiten erlebt. Im Wiener Akademietheater zählt die rührige Stadtgemeinde gerade einmal vier Bürgerinnen und drei Bürger.

Zu einem formschönen Chor vereint, bläst die Population gehörig Trübsal: "Wir Überinformierten...", schmettert das Kollektiv. Konsumzwang und Datenflut haben das politische Subjekt augenscheinlich korrumpiert. Und so hebt Thomas Köcks Überschreibung der sophokleischen "Antigone" als finstere Selbstbezichtigung an.

Die unablässig rollende See schleudert in "Antigone. Ein Requiem" Tote vor die Tore Thebens. Funeralien sind für die anonym Ertrunkenen laut Gesetz nicht vorgesehen. Der alte, familiäre Gewissenskonflikt wird vom oberösterreichischen Dramatiker Köck auf die Ebene globaler Fluchtbewegungen gehoben. Sein Appell ist eindringlich: Wir, die wir das Elend nach Übersee exportieren, müssen das zurückschwappende Leid als unser eigenes begreifen! Bestatten heißt, das Übel anzuerkennen, die Mitschuld einzugestehen, den Egoismus von uns Europäern zu sühnen.

Podest mit Kanälen

In Lars-Ole Walburgs Uraufführungsinszenierung gerät Köcks Jambenflut kaum ins Rollen. Das Podest (Bühne: Peta Schickart) wird von ein paar Abflusskanälen gequert. Nachdem ein geklimperter Trauermarsch rasch abgeklungen ist, verstricken sich die Schwestern Antigone (Sarah Viktoria Frick) und Ismene (Deleila Piasko) in ein verantwortungsethisches Gezänk. Bei Frick ist viel kraftvoller Behauptungsehrgeiz im Spiel. Auf ihrem T-Shirt prangt das Haupt Pallas Athenes: Also fehlt es bei ihr nicht an politischer Allgemeinbildung.

Antigone aber zerrt die Toten aus den Leichensäcken und schafft sie in die Stadt. Nach dem Lagerbrand in Moria (Lesbos) lässt sich kaum ein aktuellerer Stoff denken: Die Sache des gelebten Humanismus hat Europas Staatskanzleien erreicht. Die Selbstverpflichtung auf die Unteilbarkeit der von uns proklamierten Werten unterspült die Rücksichtnahme auf die Erfordernisse der Demoskopie.

Thomas Köck (34) ist die aktualitätsdramatische Allzweckwaffe dieser noch so jungen und dabei pandemisch schon so stark eingeschränkten Theatersaison. Seine Jamben klappern wohllautend und strotzen doch vor lauter Leitartikelwörtern. Das Burg-Ensemble beachtet brav jede Verszäsur. Nach Art der Beweiswürdigung muss der maskierte Zuseher die Argumente anhören, wägen – und dann doch Antigone das Recht auf Eigensinn zuerkennen.

Potentat im Jäckchen

Besagter Kreon (Markus Scheumann) trägt ein antikes Morgenjäckchen. Als Slim-fit-Potentat eignet ihm das generaloptimierte Gehabe einer in unzähligen Umfrageschlachten erprobten Prinzipienlosigkeit. Aus Trotz kaut dieser Kanzler schon einmal Worte im Stummmodus. Es ergeht einem dann mit ihm wie mit der ganzen, zum Gähnen langweiligen Veranstaltung. Man fühlt sich erschöpfend informiert.

Man hat Köcks poetische Kohlehydrate verdaut und die politische Säuernis aufsteigen gespürt. Wenn etwa der glatt gescheitelte Kreon die "Werte" unserer Demokratie einer Revision unterwerfen will ("Ich rase nicht, ich regiere nur!"). Ansonsten dominieren Botenbericht und Mauerschau das arg vorhersehbare Geschehen.

Man erfreut sich pflichtschuldig der kauzigen Vorsichtelei der androgynen Botin (Mavie Hörbiger). Man lauscht entzückt dem Seher Teiresias (Branko Samarovski), der mehr Süße auf die Erzählung seiner sexuellen Wandlungskünste verwendet als auf die Verdammnis des verrotteten Staats.

Man verlässt kaum betroffen die Wallstätte dieser gesinnungsethisch einwandfreien Unternehmung. Die Toten, heißt es, werden uns auch in Zukunft aufsuchen. Der Migrant ist, sehr frei nach Carl Schmitt, eben nicht unser "Feind" (im Gegenteil), aber vielleicht "unsere eigne Frage als Gestalt". Bis dahin hätte das Theater sehr viel lebendiger zu werden, als es nach Maßgabe dieser mauen Erstaufführung ist. (Ronald Pohl, 14.9.2020)