Dominic Thiem ist Champion der US Open

Thiem steht im zweiten Grand-Slam-Finale in Folge.
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Im Juni 2016 durchbrach er die Schallmauer. Nach dem Einzug ins Halbfinale bei den French Open zählte Dominic Thiem erstmals zu den zehn besten Tennisspielern der Welt. Es folgten Siege über Roger Federer auf Rasen und Rafael Nadal auf Sand, seine Titelsammlung schraubte Thiem auf elf hinauf.

Die Leute gewöhnten sich an Erfolgsmeldungen, Siege wurden zur Routine. Das rief ein Paradoxon auf den Plan, unverhältnismäßige Fragen wurden gestellt: Wieso verliert der Thiem gegen Leute außerhalb der Top 100? Warum hat der Domi schon wieder nicht die French Open gewonnen?

In Wahrheit war Thiem in einem Hochhaus angekommen. Er stand auf der Aussichtsplattform, dinierte in einem dieser Restaurants, die sich Sky Lounge nennen. Aber es fehlte eine Zutat, es schmeckte ihm noch nicht so ganz. Thiem wusste, dass sich oben, ganz oben auf dem Dach, die wenigen Grand-Slam-Sieger an den Antennenmast klammern und damit auf einer höheren Stufe als er selbst waren. Das Problem: Sie blieben hungrig und traten alles mit ihren Füßen, was es auch nur wagte, auf den Mast zu klettern.

Im Frühjahr 2019 engagierte Thiems damaliger Trainer Günter Bresnik den Chilenen Nicolas Massu als Touring-Coach. Der Ex-Profi sollte Thiem vereinzelt auf Fernreisen begleiten und bei Turnieren betreuen. Die Rezepte Massus fruchteten schnell: In Indian Wells feierte Thiem kurz darauf seinen größten Turniersieg. Es folgte die Trennung von Bresnik und eine neue Entwicklungsstufe. Bei den US Open 2020 gewann er seinen ersten Grand-Slam-Titel. Was macht Thiem heute besser als noch vor zwei Jahren?

Unberechenbarkeit

Das erklärte Ziel lautete, Thiem auf schnellen Plätzen besser zu machen. Massu nennt den 27-Jährigen inzwischen einen kompletten Spieler. Vor der Zusammenarbeit gewann Thiem elf ATP-Turniere, nur zwei davon nicht auf Sand. Heute stammen vier seiner letzten sechs Trophäen von Hartplatz-Wettkämpfen. Thiem wurde zum Allrounder.

Beim Aufschlag mag ein Blick auf die Zahlen blenden. Thiem serviert nicht mehr so schnell wie noch zu Beginn seiner Karriere. Der Schlüssel ist die Vielseitigkeit. Giftige Kick-Aufschläge, bei denen der Ball hoch abspringt und die für den Gegner unangenehm zu retournieren sind, nahm Thiem aus seinem Spiel auf Sand auf die Hartplätze mit.

Brachiale Grundschläge hatte er schon immer im Talon. Im Herbst 2019 folgte aber ein klarer Sprung im Spiel auf Hartplatz, wie es Jürgen Melzer im Gespräch mit dem STANDARD bezeichnet. "Er probierte es nicht nur mit purer Kraft. Er positioniert sich jetzt anders, spielt Bälle auch innerhalb des Feldes", sagt der 39-Jährige. Dadurch nehme er dem Gegner die Zeit, sich ideal zu positionieren.

Thiem wechselt außerdem mit geschnittenen Bällen von der Rückhand das Tempo. Gleichzeitig variiert er die Flugkurve. Er spielt Bälle zeitweise höher über das Netz. Dem Gegner bleibt nicht viel übrig, als den Ball früh im Aufsteigen zu nehmen, was den Schlag riskanter und fehleranfälliger macht. Entscheidet sich das Gegenüber für die defensivere Variante, selbst ein paar Schritte nach hinten zu gehen, versteht es Thiem besser als je zuvor, in den Platz zu rücken und Druck auszuüben. Dann rückt er ans Netz vor, bei Volleys und Überkopfschlägen gibt er sich selten Blöße.

Melzer trainierte während der Corona-Spielpause mit Thiem, im Vorjahr schlugen die beiden im Doppel-Wettbewerb von Rom auf.
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Unbespielbarkeit

"Früher hat er sich zum Teil selbst erschossen", beschreibt es Melzer. "Er machte in Partien so viele Eigenfehler, dass er dem Gegner gar keine Zeit ließ, selbst einen zu begehen, und verlor das Match. Diese Partien sind viel weniger geworden."

Thiem habe nun endgültig zu seinem Spiel gefunden. Es reiche hin und wieder aus, nur mit 70 Prozent der Kraft zu spielen. "Damit ist er immer noch schneller als die meisten anderen ", sagt Melzer. Die taktischen Feinheiten habe ihm Massu wohl am besten verklickert.

Dennoch spielte Thiem vor allem in den ersten Runden der US Open viele Bälle aus einer tiefen Position, weit hinter der Grundlinie. Für Melzer ist dies aus zwei Gründen effektiv. Abgesehen von Roger Federer habe kein Top-Spieler ein effektives Serve-and-Volley im Repertoire. Niemand schafft es daher, den Nachteil der schlechten Position auszunutzen und Thiem die Zeit zu nehmen.

Andererseits ist da Thiems "enorme Schlagkraft", die anderen Spielern Probleme bereitet, sagt Melzer. Mit zunehmendem Selbstvertrauen rücke er dann im Verlauf eines Turniers immer weiter nach vorne.

"Er brachte große Veränderungen in mein Spiel. Irgendwie wurde ich unberechenbarer", sagte Thiem nach seinem Turniersieg in Wien im vergangenen Oktober über die Zusammenarbeit mit Massu. Um noch undurchsichtiger zu sein, riet ihm der 40-Jährige außerdem, hin und wieder einen Stoppball zu spielen. Zum Zungeschnalzen wenn es klappt, zum Haareraufen falls nicht.

Thiem mit Massu bei einem Einladungsturnier im Juni.
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Unsterblichkeit

Während der Matches wird Massu zum Springinkerl, er feuert Thiem unermüdlich an. Abseits des Platzes verbringen die beiden viel Zeit miteinander, das gegenseitige Vertrauen ist groß. Thiem entwickelte ein neues Selbstbewusstsein, das ihn in den wichtigen Momenten sein bestes Tennis spielen lässt. Um die Motivation hochzuhalten, zerbrach sich Massu seinen Kopf über einen idealen Turnierkalender – mit weniger Auftritten als noch in den Jahren zuvor.

Massu selbst spielte einst in der Jugend auch ausschließlich auf Sand, Hartplätze gab es in Chile nicht. Trotzdem spielte er seine Stärken auf anderen Belägen aus. Bei den Olympischen Spielen 2004 machte er sich mit Gold im Einzel und Doppel unsterblich. Jetzt hat er auch einen Anteil an der österreichischen Tennis-Geschichte. (Lukas Zahrer, 13.9.2020)