In "Iphigenie. Traurig und geil im Taurerland" kommt es zu einer wundersamen Vermehrung der Hauptfigur.

Foto: Katrin Ribbe

Women only – im antiken Theater war es genau umgekehrt. Hier spielten Männer auch die Frauenrollen. Setzt die Berliner Volksbühne eine Iphigenie auf den Spielplan, um mit unnachsichtig ironischer Brille auf die Wurzeln und diskursiven Kräfte des Theaters zurückzublicken, dann interessieren natürlich erst einmal die nicht ganz so politisch korrekten Geschlechterrollen.

Iphigenie, das ist schließlich die Tochter von Heerführer Agamemnon, der mit seiner Flotte auf dem Weg nach Troja gestrandet ist und auf Wind hofft. Opfere er seine Tochter den Göttern, so der Seher, dann wäre ihm auch der Wind gnädig.

Die politische Ratio steht gegen das Schicksal des Einzelnen, Pardon, der Einzelnen. Oder wie es Iphigenie in ihrem rüschenfrohen Hochzeitskleid auf der von weißen Stoffbahnen umwehten Kitschbühne am Rosa-Luxemburg-Platz ausdrückt: "Mein bisschen Leben ist so wichtig nicht."

Mutter Klytaimnestra und Onkel Menelaos sehen das naturgemäß anders. Beide werden hier von Schauspielerinnen gespielt, Paulina Alpen die eine, Emma Rönnebeck die andere. Susanne Wolff ist wiederum Agamemnon, Teresa Schergaut Odysseus. Womit auch schon die größte Besonderheit des ersten Teils dieser rein weiblichen Iphigenie-Inszenierung umrissen ist.

Pathos und Trash

Eine gute Stunde lang passiert auf der Bühne der Volksbühne nämlich tatsächlich etwas, das es auf dieser Bühne der lustvollen Infragestellung schon lange nicht mehr gegeben haben dürfte: Man zelebriert ein in Pastellfarben gerücktes, von Versen getragenes und durchaus von Pathos und von Trash umrahmtes Hochamt hochklassischer Literatur. Klar, zu trauen ist dieser tragische Töne genauso zelebrierenden wie ihnen misstrauenden Zeremonie keine Sekunde.

Der Musentempel in der Bühnenmitte ist aus Sperrholz, die korinthischen Säulen sind plattgedrückt (Bühne: Jana Wassong), die Hosenanzüge der antiken Haudegen schimmern wahlweise in Nude- oder Fliedertönen (Kostüme: Leonie Falke). Aber immerhin: Hier wird die von Goethe und Winckelmann geschliffene idealistische Version der aulischen Iphigenie erzählt. Iphigenie (Vanessa Loibl) wandelt sich hier vom naiven Trutscherl zum schrecklich einsichtigen Gör, und selbst ihre Mutter Klytaimnestra entschuldigt sich am Ende brav, als ihr das recht direkte Wort "Fotze" auskommt. Ist beim antiken Dichter Euripides ja auch wirklich nicht vorgesehen.

Das Opferbassin

So schlimm kommt es dann aber nicht, wenn Iphigenie schließlich in das von flackernden Kerzen umrahmte Opferbassin steigt: Statt im Götterhimmel (dort kommt eine Hirschkuh hin) landet sie im Taurerland, in Berlin einer Mischung aus Wellnessoase, feministischem Therapiecamp und Selbstversicherungsseminar, in dem pausenlos das Telefon läutet.

Gemeinsam mit Hannah Schünemann und Teresa Schergaut hat die Regisseurin Lucia Bihler ihre Iphigenie als "neomythologisches Diptychon" angelegt und dem Euripides vom ersten Teil Kurztexte der Wiener Facebook- und Callcenterkönigin Stefanie Sargnagel draufgesetzt. Das Ganze nennt sich dann offenherzig Iphigenie. Traurig und geil imTaurerland.

Die Furzorgien

Mit "Scheiße, was für eine Nacht" beginnt der zweite Teil. Statt einer Iphigenie im Hochzeitstutu gibt es jetzt gleich deren fünf, der Hintergrund ist in Zuckerlrosa getaucht, und auch sonst ist bis auf die Frauen-Combo, die weiterhin brav im Hintergrund aufspielt, alles ziemlich anders.

Das Erstaunliche an diesem Abend ist allerdings, dass die beiden Teile des Stückes trotz radikalen Bruchs nahtlos ineinandergreifen. Ohne die hohen Töne des ersten hinge die Rotz- und Fäkalsprache des zweiten in der Luft. Und ohne die gewitzten Sargnagel-Aphorismen rund um Furzorgien und Vorhautverengungen im zweiten wüsste man wohl mit dem ersten Teil nicht besonders viel anzufangen. Dieser steckt das Geschlechterbild ab, vor dessen Hintergrund Sargnagels Textbrocken glänzen können.

Baumelndes Neonherz

Überhaupt tut denen die Bühne gut: Während sie sich in Bildschirm- oder Papierform oft in einem etwas öden Tabubruch ergehen, gewinnen sie in Gestalt des durchwegs starken Ensembles hier in Berlin an Schlagkraft und Witz. Von der Decke baumelt ein Neonherz mit zwei Nierdln. Und auch unten – auf der Bühne – wird genussvoll und mit viel präzisem Ernst in den Eingeweiden und Widersprüchen postfeministischer Realitäten gewühlt.

Die Verbindungslinien zwischen den beiden Teilen des Stücks muss man nicht überstrapazieren, und auch die intellektuelle Brille kann man einmal getrost abnehmen. Die Hetz und den Jux sollte man sich allerdings auf keinen Fall entgehen lassen. (Stephan Hilpold, 14.9.2020)