Im Sport ist man, wie im Leben, nachher immer klüger. Dabei haben es die Erzählungen im Sport einfacher: Am Ende gibt es fast immer einen Sieger und einen Verlierer. Schwarz oder weiß, alles oder nichts, Held oder Trottel, Sonne oder Regen. Da ist es leicht, nachher klüger zu sein. Für Österreichs besten Tennisspieler, Dominic Thiem, sah es im Finale der US Open lange nach heftigem Niederschlag aus. Zu schlecht war er im ersten und in großen Teilen des zweiten Satzes. Zu gut war sein Gegner Alexander Zverev, der auf alles eine Antwort hatte und Thiem Aufgaben stellte, an denen er zerbrach. Die Vorschusslorbeeren – Thiem galt im Vorfeld als klarer Favorit – schienen sich wie Dornen in den Kopf des 27-Jährigen zu bohren. Oder anders: Thiem wirkte irre nervös, Zverev nicht.

Beim Tennis liegt der Sieger oft auf dem Boden.
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Der Unfall

Große Geschichten von Comebacks haben ihren Ursprung in kleinen Momenten: zum Beispiel als Thanos in "Marvels Avengers" die halbe Bevölkerung des Universums ausgelöscht hatte und Antman plötzlich aus dem Quantum Realm zurückkehrte und die Wende brachte. Oder die paar Minuten Video, die im Mai 2019 die Koalition sprengten und den Grünen später zu einem der größten Comebacks der österreichischen Politikgeschichte verhalfen. Oder Hermann Maiers Sturz und die anschließende Goldene bei den Olympischen Spielen in Nagano.

Zverevs Volley bei seinem vierten Satzball im zweiten Satz und dem Stand von 5:2 hatte auch etwas von einem Unfall. Im Fußballjargon war der Schlag am Netz ein "Elfer ohne Goalie", nurmehr reinhauen, Zweisatzführung, 6:2, 6:2, case closed. Zverev verschlug ihn, und obwohl er später seinen fünften Satzball nutzte, war die Dominanz, die Souveränität seines Spiels gehörig angekratzt. Thiem fand immer besser zurück ins Spiel. Zverev wackelte immer öfter. Thiem holte zum großen Comeback aus.

Die Seele

Boris Becker, früherer Weltklassespieler, der eher mit dem Schläger als mit Worten glänzte, hat einmal gesagt: "Der zweite Aufschlag ist der Blick in die Seele eines Tennisspielers." Die Seele Zverevs wirkte mit Fortdauer des Spiels immer belasteter. Wenn das erste Service nicht kam, war der 23-jährige Deutsche wie ein Schüler, der Ausreden suchte, weil er die Hausübung nicht gemacht hatte. So servierte er mit viel Risiko und übermäßigem Tempo oder schupfte den Ball nur irgendwie ins Feld. Manchmal klappt das, am Ende standen aber 15 Doppelfehler in der Statistik.

Das Zauberwort im Tennis ist Konstanz, und je länger das Spiel dauerte, desto weniger konstanten Zauber brachten beide auf den Court des Arthur Ashe Stadium in New York. Immer wenn man das Gefühl hatte, dass ein Spieler endgültig anziehen würde, brachen Thiem oder Zverev wieder ein. Die Körper ließen nach, hier und da waren traumhafte Ballwechsel zu sehen, die bald aber wieder in haarsträubenden Fehlern verpufften. Spieler, die vor allem durch ihre schier unmenschliche Konstanz verzaubern, standen nicht in diesem Finale: Novak Djokovic wurde im Achtelfinale disqualifiziert, Roger Federer und Rafael Nadal waren erst gar nicht nach New York gereist.

Sei's drum: Die Exegese war ein Drama im Tiebreak des fünften Satzes, genau dafür ist dieses Format wohl gemacht. Es braucht schnell einen Sieger und einen Verlierer, einen Helden und einen, der weint. Viel länger aber hätten beide Spieler wohl auch nicht durchgehalten. Aber das lässt sich im Nachhinein auch leicht klug sagen.

Beim Tennis gibt es am Ende immer einen, der gewinnt, und einen, der verliert.
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Nach dem Sieg war Thiem "überglücklich". No na. Die Tenniswelt streute dem Drama im Finale und dem ersten österreichischen Grand-Slam-Sieger seit Thomas Muster 1995 Blumen. "Dominic Thiem, der Meister des Leidens" titelte der Schweizer "Tagesanzeiger". Thiems Ex-Coach Günter Bresnik, der aus dem Bub aus Lichtenwörth einen Tennisspieler gemacht hatte, stieg im Ö1-"Morgenjournal" in den Tenor ein: "Es war eine mentale Meisterleistung."

Die Blumen

Bresnik hatte sich eigentlich einen klaren Verlauf zugunsten seines Ex-Schützlings erwartet: "Ich hätte gesagt, dass das Dominic als klarer Favorit und besserer Spieler wesentlich schneller machen würde. Deshalb war es im Endeffekt entscheidend, wie Dominic mit einem 0:2-Satzrückstand, den wirklich keiner erwartet hat, umgegangen ist. Und das war für mich wieder tief beeindruckend. Das sind diese außergewöhnlichen Qualitäten, die Dominic einfach hat, seit er ein Jugendlicher ist."

In der Weltrangliste machte Thiem Boden gut: Sein Triumph brachte ihn mit 1.990 Zusatzpunkten bis auf 725 Zähler an den zweitplatzierten Rafael Nadal (ESP) heran. Auch der führende Novak Djokovic (SRB) ist nur noch 1.735 Punkte vom Österreicher entfernt. Der Vorsprung Thiems auf den viertplatzierten Roger Federer (SUI) beträgt nun 2.495 Zähler. Finalist Zverev bleibt Siebenter. (Andreas Hagenauer, 14.9.2020)